Corona gibt digitaler Gesundheitsversorgung Auftrieb

Das Startup „Torque3“ im kalifornischen San José und die Sachsenring Manufaktur in Sangerhausen tüfteln an einem Fahrrad für die Neuro-Rehabilitation

Es musste nicht erst Corona kommen, um den Pflegewissenschaftler Patrick Jahn darin zu bestärken, dass Digitalisierung im Pflegebereich kein Tabuthema sein darf: „Vor allem im ländlichen Raum wäre die ambulante Pflege einfacher zu bewerkstelligen – für Pflegepersonal und pflegende Angehörige, wie auch für die Betreuungs- und Pflegebedürftigen selber. Patrick Jahn und Gleichgesinnte aus Wissenschaft und Wirtschaft bringen in dem Bündnis „Translationsregion für digitale Gesundheitsversorgung“, kurz TDG, innovative Entwicklungen auf die Wege übers Land.

„Wir richten unseren Fokus auf digitale Hilfsmittel, die bis ins hohe Alter ein selbstbestimmtes Leben in gewohnter häuslicher Umgebung ermöglichen. Und wir entwickeln Lösungen für eine digitale Infrastruktur, die vor allem im ländlichen Raum Gesundheitsvorsorge und ambulante Pflege auf hohem Niveau sichert“, sagt Patrick Jahn. Er weiß genau, wovon er redet. Sein beruflicher Weg reicht vom gelernten Krankenpfleger bis zum promovierten Pflegewissenschaftler. Im Juli wird der 44-Jährige den Lehrstuhl für Versorgungsforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg antreten.

„Zirka 25 Prozent der sachsen-anhaltischen Bevölkerung sind über 65 Jahre alt; im Jahr 2030 werden es 30 Prozent sein“, sagt Jahn und dass sich vor dem Hintergrund dieser demografischen Entwicklung auch neue Geschäftsfelder ergeben. Aus dem akuten Geschehen der Corona-Krise heraus werde der Bedarf an digitalen Lösungen überdeutlich, sagt Pflegewissenschaftler Jahn wohlwissend, dass für Privathaushalte wie für Pflegeeinrichtungen der Zugang zu digitalen Welten mehrheitlich ungewohnt und beschwerlich, andererseits ein großes Wirkungsfeld sei für die derzeit über 70 TDG-Partner – Universitäten und Hochschulen, Softwarefirmen, Wohnungsgesellschaften, Mediziner, Pflegedienstleister, Therapeuten ... . „Zusammenleben 4.0“ beispielsweise ist ein Pilotprojekt gemeinsam mit der Wohnungsgesellschaft HaNeuer Wohnen, die als Vorreiter auf dem Markt altersgerechte Wohnräume den Bedürfnissen entsprechend digital ausstatten will. Dazu gehört ein IT-gestütztes Portal, das Hilfesuchende und ehrenamtliche Spontanhelfer nutzergerecht, wohnort- und zeitnah zusammenbringt.

Telepräsenzroboter und Telesprachtherapie

Patrick Jahn sieht in der Corona-Krise eine Chance, dass digitale Angebote jetzt schneller akzeptiert und umgesetzt werden wie zum Beispiel die Telepflege. Die bekomme in Bezug auf online-Beratungen zwischen Medizinern, Pflegepersonal und Angehörigen eine neue Bedeutung – unter anderem bei der Anleitung zum Wechseln eines Wundverbandes oder zu therapeutischen Übungen wie etwa Sprachtherapie. Jahn zieht den Einsatz des Telepräsenzroboters in Betracht. Erste Modelleinsätze in der Uniklinik Halle seien vielversprechend. Das vom Arzt oder einer Pflegefachperson gesteuerte mobile VoIP-System (Voice over Internet Protocol) erzeugt bei allen Gesprächsteilnehmern die Illusion, sich in derselben Umgebung zu befinden. „Es wächst gerade die Bereitschaft, dieses Hilfsmittel zur ambulanten Gesundheitsversorgung und Pflege auszuprobieren“, sagt Jahn.

Ein anderes Projekt, an dem u.a. die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die Pixelmad Studios UG aus Magdeburg und die Logopädieschule UHK aus Halle (Saale) beteiligt sind, will Aphasie-Patienten, in der Regel durch Schlaganfall geschädigt, eine sprachtherapeutische Versorgung im eigenen Wohnumfeld ermöglichen. Die Innovation besteht in einer KI-basierten Auswertung und Planung von Übungsfolgen. „In einem digitalen Tele-Sprachtherapie-Raum, der von Einzelpersonen wie von Gruppen besucht werden kann, hätten auch mobilitätseingeschränkte Patientinnen und Patienten im ländlichen Raum Zugang zu einer erfolgreichen Therapie in der Nachsorgephase“, sagt Patrick Jahn. Das junge Team der Magdeburger Pixelmad Studios bringt seine Kompetenzen der 3D-Visualisierung und Spiele- und Softwareentwicklung ein.

Ein Fahrrad für die Neuro-Rehabilitation

Die therapeutische Anwendung von Exergaming, also von Computerspielen, die zur Reaktion und körperlicher Bewegung auffordern, ist auch eines der Einsatzfelder, auf denen sich Pflegewissenschaftler Patrick Jahn „bewegt“. Als Mitbegründer der Schlaganfallallianz Sachsen-Anhalt (SASA) ist er am Einsatz solcher Innovationen interessiert, die zu einer erfolgreichen Neuro-Rehabilitation nach dem Schlaganfall und somit zu einer aktiven unabhängigen Lebensweise führen können. Eine Kooperation auf dieser Strecke reicht sogar bis ins kalifornische San José. Dort hat das Startup „Torque3“ eine Plattform für Simulationstechnologien entwickelt. Sie ähnelt einem stationären Liegerad, das dem Nutzer ein reales Fahrrad-Erlebnis simuliert – vom Treten mit Pedalwiderstand über ein hochpräzises Lenkungsfeedback bis hin zum Fühlen des Fahrtwindes.

Die Sachsenring Bike Manufaktur GmbH (SBM) in Sangerhausen sieht für sich ein neues Geschäftsfeld darin, Schlaganfallpatienten eine VR-basierte Rehabilitation im häuslichen Umfeld zu ermöglichen. Das über 100 Jahre alte Traditionsunternehmen aus Sachsen-Anhalt besitzt eine der größten Fahrrad-Fertigungsanlagen Europas und viel Erfahrung, was Sensorik und elektrische Antriebslösungen betrifft. Gemeinsam mit dem Startup aus Kalifornien will SBM ein neuartiges innovatives Trainingsgerät entwickeln und bauen. Pflegeforscher Jahn sieht in diesem Projekt ein nachhaltiges Beispiel, wie Digitalisierung sogar präventiv zur Reduzierung der Pflegebedürftigkeit beitragen kann.

Autorin: Kathrain Graubaum


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