Der Stoff aus dem Kunst ist: Mit Biopolymeren über den Tassenrand schauen

Können in einer kleinen Tasse große Geschichten von Innovationen und Inspirationen stecken?

Die Merseburger „Exipnos GmbH“ gibt die Antwort mit der Wiederbelebung der „Flugzeugtasse“. Für den Kongress „Biopolymer – Processing & Moulding“ im Juni in Halle (Saale) hauchen das auf Kunststoff-Verbindungen spezialisierte Merseburger Unternehmen und seine Kooperationspartner dem Designstück aus den 30er Jahren wieder Leben ein. Diese Tasse ist randvoll mit Ideen und zugleich spülmaschinentauglich und biologisch abbaubar.

Es hätte Marguerite Friedlaender-Wildenhain sicherlich gefallen, was jetzt mit ihrer kleinen Tasse passiert. Die Lyoner Künstlerin liebte es, innovativ zu arbeiten. Neues zu wagen und vor allem weit über jeden „Tassenrand“ zu schauen. Möglichkeiten dafür eröffneten sich für die Weimarer Bauhausschülerin in den 30er Jahren an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle (Saale), wo sie die Keramik- und Porzellanwerkstatt leitete. Bei der Ausstattung des neuen Flughafens Halle-Leipzig entwarf sie 1931/32 die „Flugzeugtasse“. Schlicht, klein, weiß. Die ganz im Sinne der gestalterischen Moderne streng geformte Tasse hat keinen Henkel, dafür aber einen tiefen Standring, der in die ausgesparte Mitte der Untertasse greift. Nichts kann sie erschüttern. Sie steht fest und unverrückbar.

Einen kleinen Aufwind erhielt die Tasse in einer limitierten Kleinserie anlässlich der Einweihung des internationalen Flughafens in Leipzig mit Beginn des neuen Jahrtausends. Jetzt erlebt sie eine Wiedergeburt und ist zugleich ein Symbol dafür, welcher Forschungs- und Erfindergeist in Sachsen-Anhalt steckt und welche wirtschaftlichen Strömungen erfolgreich zusammenfließen. Ein Dreivierteljahrhundert nach ihrem Entwurf hat die „Ringmoccatasse“, wie sie die Künstlerin nannte, nichts an Originalität und Funktionalität eingebüßt. Zeiten und Mode sind spurlos an ihr vorübergezogen.

„Die Welt neu denken“ im Bauhaus-Jubiläumsjahr 2019

Sie befindet sich in guter Gesellschaft. In Sachsen-Anhalt wurden bereits in den 20er und 30er Jahren Ideen der Moderne entwickelt und erprobt – unter anderem in Magdeburg, Halle (Saale), Leuna, Stendal oder Zeitz. In Dessau gelangte das Bauhaus zu seiner Blüte. Hier errichtete Walter Gropius 1925/26 das Gebäude, das zur Ikone der Moderne geworden ist und zum UNESCO-Welterbe gehört. Im kommenden Jahr feiert Sachsen-Anhalt den 100. Jahrestag der Gründung als eine der bedeutendsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. „Die Welt neu denken“ –  das Motto des Jubiläumsjahres, das auch auf internationaler Bühne gefeiert wird, lässt indes auch wieder viel weiter über den „Tassenrand“ blicken.

100-jährige Tradition in der Chemie- und Kunststofftradition

Denn es ist natürlich kein Zufall, dass die „Exipnos GmbH“ und ihre Kooperationspartner die „Flugzeugtasse“ wieder aufleben lassen. Sie soll ein Präsent für den Internationalen Kongress „BIOPOLYMER – Processing & Moulding“ werden, für den Interessenten aus vielen Teilen der Welt anreisen. Das Fraunhofer-Pilotanlagenzentrum für Polymersynthese und -verarbeitung in Schkopau liefert für das „Tassen-Präsent“ Versuchskapazitäten und Know-how, das Chemieunternehmen BASF, das mit einem Werk in Leuna in Sachsen-Anhalt ansässig ist, stellt den vielseitigen Biokunststoff „ecovio®“ zur Verfügung, der biologisch abbaubar und biobasiert ist. Am 19. und 20. Juni kommen beim Kongress – in Kooperation mit der Burg Giebichenstein in Halle (Saale), wo bis heute kreative Studenten und frische Start-Ups ihre Ideen entwickeln und auf den Markt bringen – neben der Tasse viele Fragen zu biobasierten und bioabbaubaren Kunststoffen auf den Tisch. Peter Putsch, zugleich Chef von „Exipnos“ und Vorsitzender der „POLYKUM Fördergemeinschaft für Polymerentwicklung und Kunststofftechnik in Mitteldeutschland“, freut sich auf den Kongress und sagt: „An diesen Tagen treffen sich Weltmarktführer, Hidden Champions, aber auch Mittelständler. Wir wenden uns an Spritzgießer, Verarbeiter und Anwender.“ Das Update in Sachen Biokunststoffe erhalten die Teilnehmer, wo das Herz des Chemiedreiecks schlägt. Denn Halle (Saale) ist nicht nur ein beliebter Studien- und Wirkungsort für kreative Köpfe, deren Branche sich dank interdisziplinär arbeitender Teams zum „Schlüsselwirtschaftszweig“ in Sachsen-Anhalt etabliert hat. Die Saalestadt  und ihre mitteldeutschen urbanen Nachbarn blicken zugleich auf eine mehr als 100-jährige Tradition in der Chemie- und Kunststoffindustrie zurück. Nach 1990 entstand in der Metropolregion Mitteldeutschland einer der effizientesten Chemie-Standorte weltweit. Aktuell zählt dieser Industriezweig wieder zu den wichtigsten Wachstumsbranchen in der Region.  

Bioökonomie und biobasierte Wirtschaft im Fokus

Zu einem bedeutenden Standbein haben sich die Bioökonomie und die biobasierte Wirtschaft entwickelt. Nicht umsonst gehört Sachsen-Anhalt zur Schwerpunktregion des mitteldeutschen Spitzenclusters „BioEconomy“. Wichtige akademische Impulse erhält dieser unter anderem vom Wissenschaftscampus Halle (Saale), wo vier Leibnitz-Institute der Region mit Instituten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zusammenarbeiten und sich dem Thema „pflanzenbasierte Bioökonomie“ widmen. Auch dank der „Regionalen Innovationsstrategie Sachsen-Anhalt 2014-2020“ schauen hier unzählige interdisziplinär arbeitende Teams weit über den „Tassenrand“.

Was ist schon normal?

Auch Peter Putsch ist sich der Bedeutung bewusst. Dass der Bereich „Chemie und Bioökonomie“ zu den fünf identifizierten Leitmärkten der Landesregierung zählt, ist für ihn weiterer Ansporn. Nicht nur als ehrenamtlicher Vorsitzender der „POLYKUM Fördergemeinschaft“ auch als Unternehmer treibt er, wie viele Vertreter der Branche, Innovationen voran. „Die Anforderungen an Kunststoffe in Hightech-Branchen sind sehr hoch“, sagt er. In seinem Merseburger Unternehmen „Exipnos“ werden Materialien produziert, die bei der Verarbeitung hochfließfähig und im Endprodukt schlagzäh sind – also Eigenschaften haben, die sich normalerweise ausschließen. „Aber was ist schon normal?“, fragt Putsch. „Viele Compounds, die wir heute produzieren, hielten Fachleute vor wenigen Jahren noch für Wunschdenken.“ Er ist sich sicher, „dass Biopolymere schon bald kein Nischenthema mehr sein werden, sondern zum Standard gehören und die gesamte Kunststoffbranche umkrempeln könnten“. Seit mehr als 90 Jahren steht die Firma für Innovationen im Bereich der Kunststoff-Entwicklung und -Verarbeitung und pflegt Kontakte, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Und das nicht nur mit branchengleichen Partnern. „Die Branchengrenzen sind fließend, wir arbeiten mit allen zusammen, die den Produkten weiterhelfen“, meint Peter Putsch. „Wir sind offen für neue Ideen und Ansätze, so verrückt sie auch zunächst klingen mögen.“

Kleine Tasse mit großer Symbolkraft

Und damit kommt wieder die „Flugzeugtasse“ mit dem Loch im passenden Tellerchen ins Spiel. Design und Kunststoff gehören zueinander – fast so wie Mocca und Tasse. Die Idee der bioabbaubaren Tasse war gar nicht so abgehoben, findet Putsch und fand viel Zustimmung, sie auf den Kongress zu holen. Die „frische Flugzeugtasse“ Marguerite Friedlaenders ist nun randvoll mit Biopolymer-Know-How und mit Design-Gedanken sowieso. So ist sie ein Symbol für Ideen, die zunächst gern mal abgehoben wirken dürfen.

Autorin:  Manuela Bock

www.polykum.de
www.exipnos.de
 

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