„Straßenbahnen aus Sachsen-Anhalt rollen bald durch Helsinki“

Die Schleifmaschine trennt kreischend Metall. Funken sprühen. Ein Mann schleppt Stahlträger durch die Halle. In einer Ecke beugen sich Ingenieure über Pläne. Ein Arbeiter kriecht durch einen entkernten Straßenbahnwagen. Auf den Gleisen stehen alte, heruntergekommene Waggons und Züge: In der Werkshalle der  „Verkehrs Industrie Systeme GmbH (VIS) in Halberstadt herrscht Hochbetrieb. Im Oktober 2011 sah das ganz anders aus: Das ehemalige Reichsbahn-Ausbesserungswerk (RAW) war von der Schließung bedroht. Keine Aufträge! Dirk Zeppenfeld, der das Unternehmen mit rund 330 Mitarbeitern von der Deutschen Bahn AG 2002 übernommen hatte, teilte der verbliebenen Belegschaft mit: „Im April ist hier Schluss.“

Dass es nicht dazu kam ist Dirk Ballerstein (47) und einem Großauftrag aus Helsinki zu verdanken. Maschinenbau-Ingenieur Dirk Ballerstein kam Anfang 2011 zur VIS. Der Weltenbummler, der in Amerika und Abu Dhabi arbeitete, unterschrieb nach der Rückkehr beim Schienenfahrzeugbauer „Alstom Transport“. Weitere Stationen waren Siemens und Bombardier: „Zufällig landete ich eines Tages in Halberstadt“, erzählt Dirk Ballerstein, „als ich dieses Werk sah, bin ich vom Glauben abgefallen.“ Der Ingenieur hatte noch nie etwas von VIS gehört, „obwohl ich in der dieser Industrie arbeitete.“  Zuhause informierte sich der gebürtige Braunschweiger über den Betrieb: „Als ich hörte, dass VIS vor der Schließung steht, dachte ich, dass darf nicht passieren.“

Er ergriff die Initiative, nahm Kontakt mit den Eigentümern auf und überzeugte mit einem neuen Konzept. „Bisher war VIS auf Stahlbau und die Instandsetzung von Zügen konzentriert. Ich wollte, dass wir Unfallreparaturen sowie sämtliche Dienstleistungen für Schienenwagen-Hersteller und Bahnbetreiber anbieten.“ Verständlich: 165.000 Quadratmeter Grundstücksfläche, davon 45.000 m² überdacht. Eine Schiebebühne mit einer Traglast von 80 Tonnen. Die eigene supermoderne Strahl- und Lackieranlage für Züge oder Waggons bis 33 Meter Länge.

Stahlbauhalle und Metallbearbeitung. Dazu sieben Kilometer Gleise auf denen Züge und Waggons parken: „Wir sind optimal aufgestellt und wettbewerbsfähig“, erzählt Dirk Ballerstein: „Waggons reparieren, Mittelteile von Triebwagen bauen, Züge komplett aufarbeiten, bis zur Restaurierung historischer Züge. Bei VIS ist alles möglich. Sogar  große Revisionen können durchgeführt werden.“ Revision, das ist ein Super-TÜV für Schienenfahrzeuge, bei denen ein Zug oder Waggon in alle Einzelteile zerlegt, geprüft und wieder zusammengebaut wird.

Ballersteins erste Aufgabe war es, VIS bei Herstellern bekannt zu machen: „Ich besuchte alle Schienenfahrzeugbauer und präsentierte unser Werk.“ Sechs Monaten später füllten sich die Auftragsbücher: Wartungs- und Reparaturaufträge. Im ersten Jahr mit Dirk Ballenstein machte das Unternehmen acht Millionen Euro Umsatz.

Dirk Ballerstein wollte mehr: „Einen Großauftrag, der das VIS-Überleben über Jahre sichert.“ Und der kam: Der finnische Straßenbahnbetreiber HKL, der für den Verkehrsbetrieb in Helsinki verantwortlich ist, musste handeln: 90 neue, moderne Straßenbahnen liefen nicht einwandfrei. HKL beschloss, alte Straßenbahnen, die verschrottet werden sollten, restaurieren zu lassen, und wieder einzusetzen. Diesen Auftrag erhielt im Januar 2012 VIS:

„Bis März 2013 überholen wir zehn Straßenbahnen vom Typ NRV1“, freut sich Dirk Ballerstein. Damit nicht genug: VIS erhielt von HKL außerdem die Order, neue Mittelwagen für die Straßenbahnen zu bauen und mit Niederflurmittelmodulen zu versehen, die „die Fahrgastkapazität erhöhen und den Zugang für Behinderte erleichtern.“ Gesamtes Auftragsvolumen: Viereinhalb Millionen Euro. Außerdem wurden zwei Optionen für jeweils fünf Fahrzeuge, die bis 2014 geliefert werden, vereinbart. Eine Entscheidung dazu fällt im Spätsommer. Bereits der erste Vertrag ist ein Sprung nach vorn: „128 Arbeitsplätze sind gesichert und wir konnten alle Zeitverträge in unbefristete umwandeln“, freut sich Dirk Ballerstein.

Anfang März rollte die erste abgewrackte Straßenbahn auf einem Schwertransporter von Helsinki nach Halberstadt. Im Vier-Wochen-Takt kommen jetzt weitere Züge zur VIS. Kaum da, wurde die Straßenbahn komplett „entkernt“: Sitze und Verkleidungen ausgebaut. Alte Kabel entfernt. Fenster rausgenommen. Der Restlack abgekratzt, Rost weggeschliffen – „von einem Zug bleibt – außer dem Fahrgestellt – nicht viel übrig“, lacht Dirk Ballerstein.

Parallel begannen die Arbeiten am neuen Mittelteil: Stahl wurde in der eigenen Metallwerkstatt geformt und bearbeitet, Seitenteile geschweißt, Niederflurschweller installiert: „Wenn alles erledigt ist, kommen die Waggons in die Lackiererei, werden im „Spritzverfahren“ grün und gelb lackiert. Dann folgt der Innenausbau und abschließend werden die drei Zugteile verbunden. „18 Wochen dauert der Auf- und Neubau einer Straßenbahn“, erzählt Dirk Ballerstein, „künftig werden wir an bis zu vier Zügen gleichzeitig arbeiten.“

Im Juli rollt die erste Straßenbahn aus Sachsen-Anhalt durch Helsinkis Straßen: „Wir sind mit an Bord“, sagt Dirk Ballerstein. Das wurde im Vertrag vereinbart. Für den VIS-Geschäftsführer gibt es noch einen anderen Grund – einen ganz persönlichen: “Als ich in Halberstadt anfing, hatte ich die Vision, dass wir in einigen Jahren eine komplette Auslastung unserer Anlagen erreichen und über 200 Mitarbeiter beschäftigen. Den Grundstein haben die Finnen gelegt. Deshalb ist meine Anwesenheit in Helsinki eine Selbstverständlichkeit.“


Autor: Thomas Pfundtner
Foto: VIS Halberstadt

Kontakt:
Verkehrs Industrie Systeme GmbH
Magdeburger Strasse 29
38820 Halberstadt
Tel.: +49 3941 52356
Fax: +49 3941 52335
Web: www.vis-hbs.de

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