„Hier darf der Wald machen, was er will“
Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ ist auf der EXPO Modell für natürliche Ökosysteme
„Feeding the Planet, Energy for Life“ ist das Thema der EXPO 2015 in Mailand. Energiequelle für alles Leben ist die Natur. Weltweit helfen Naturschutzgroßprojekte, dass diese Quelle nicht versiegt. Eines wird im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt seit 2001 entlang der „Mittleren Elbe“ umgesetzt.
Ein grüner Teppich mit gelben Löwenzahn-Punkten liegt auf dem Deich, frisches Maigrün leuchtet an den Eichen. Aus einem Altwasser quaken die Frösche. Die Elbe, der zweitgrößte Fluss Deutschlands, fließt keine zehn Meter entfernt. Dem Naturschützer lacht das Herz beim Anblick dieses Altdeiches, gebaut um 1850. Astrid Eichhorn weist auf angeschwemmtes Totholz: „Niemand räumt auf, hier darf der Wald machen, was er will.“ Durch den Steckby-Lödderitzer Forst, im Herzen Sachsen-Anhalts, verläuft die Kernzone des Biosphärenreservates „Mittelelbe“. Es umfasst einen noch weitgehend zusammenhängenden Auenwaldkomplex – einen der größten und letzten dieser Art in Mitteleuropa. Schon 1979 wies die UNESCO die Flusslandschaft Steckby-Lödderitzer und das Vessertal im Thüringer Wald als die beiden ersten Biosphärenreservate Deutschlands aus. 1988 wurde das Reservat um die Dessau-Wörlitzer Kulturlandschaft erweitert. Durch die Einbeziehung weiterer Bereiche wurde 1990 das Biosphärenreservat Mittlere Elbe geschaffen. Das Gebiet des Reservates war rund 43.000 Hektar groß. Durch die Erklärung zum Biosphärenreservat Mittelelbe am 20. März 2006 und eines umfassenden Anhörungsverfahrens in der Region, wurde die Fläche auf 125.743 Hektar fast verdreifacht.
Diesem Schutz ist es zu verdanken, dass sich hier am Fluss Elbe eine ungeheure Artenvielfalt in Flora und Fauna erhalten konnte. Auch der Elbe-Biber, er steht auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Tiere, ist wieder heimisch in seinem ursprünglichen Lebensraum.
Dr. Astrid Eichhorn leitet des Projektbüro Mittlere Elbe, das in Dessau, Sachsen-Anhalt, für den WWF Deutschland (World Wide Fund For Nature) arbeitet. „Der Schutz allein“, sagt sie, „ist keine Garantie für die Bewahrung eines einzigartigen Natur-Raumes. Der Mensch muss auch geeignete Maßnahmen ergreifen, die eine eigendynamische Entwicklung solcher natürlichen Ökosysteme ermöglichen.“
2001 ging zu diesem Zweck das Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ an den Start. Das „Fördergebiet von gesamtstaatlich repräsentativer Bedeutung“, wie es das Bundesamt für Naturschutz offiziell einordnet, umfasst rund 9050 Hektar, davon sind derzeit etwa 1020 im Eigentum der weltweit agierenden Naturschutzorganisation WWF, um dort eine „echte“ Auenlandschaft wiederherzustellen. Das Gesamtbudget für die rund 60 Maßnahmen in diesem Großprojekt umfasst 30,3 Millionen Euro. Die kommen zu 75 Prozent vom Bund, zu 15 Prozent vom Land Sachsen-Anhalt und zu zehn Prozent vom WWF.
Was bedeutet „echte“ Auenlandschaft? „Beispielsweise, dass die Verbreitung standortfremder Gewächse gestoppt wird“, erklärt Astrid Eichhorn: „Noch bis in die 1950er Jahre wurde hier die amerikanische Rot-Esche gepflanzt, weil sie sich besonders gut den Umweltbedingungen anpasst. Leider verdrängt sie die einheimische Esche, die mit Eiche und Ulme typisch für unseren Hartholzauenwald ist.“
Um dagegen der heimischen Eiche die Vermehrung und Verbreitung zu erleichtern, wurden aus den Samen hunderte Jahre alter „hochwassererfahrener“ Auen-Bäume 88000 Pflanzen gezogen und mittlerweile ausgepflanzt. Des Weiteren gibt es mit Pächtern von Grünland Verträge über spezielle Pflegemaßnahmen, die die Entwicklung einer Artenvielfalt begünstigen.
Die Bewahrung bzw. Wiederherstellung einer „echten“ Auenlandschaft beinhaltet auch den Erhalt ihres typischen Ökosystems, das durch Überflutung und Trockenfallen entsteht. Um der Aue den permanenten Austausch mit dem Fluss, den Wechsel von Hoch- und Niedrigwasser zu ermöglichen, befasst sich ein Großteil der Projekt-Maßnahmen mit der Deichrückverlegung. „Auenland ist fruchtbares Land, das Landwirte nicht gern hergeben. Der WWF hat für die Betroffenen nach gleichwertigen Tauschflächen gesucht oder ihnen Entschädigung gezahlt“, erzählt Astrid Eichhorn.
Es war noch kein Spatenstich für den neuen Deich getan, da kam das Hochwasser 2002. Der Elbe wieder mehr Raum zu geben, wurde zu einem brisanten Thema. Für Projektleiterin Eichhorn und ihre Partner vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft Sachsen-Anhalt, vom Landesministerium für Landwirtschaft und Umwelt und vom Biosphärenreservat Mittelelbe begann eine sehr intensive Zeit der Verständigung mit der Bevölkerung in den Anrainer-Orten.
Konkret für 7,3 neue Deich-Kilometer bedeutete das, Kompromisse zwischen Naturschutz und Hochwasserschutz zu finden. Der erste Spatenstich für den DIN-gerechten Deichneubau war 2010. Gebaut wird in vier Abschnitte, der dritte wird in diesem, der letzte im nächsten Jahr fertig. 2017 soll der alte Deich an zehn Stellen geschlitzt werden. „Die Hochwasser führende Elbe kann dann an diesen Stellen durch etwa 200 Meter breite Öffnungen fließen“, sagt Astrid Eichhorn.
Wir stehen jetzt an einer Deichstelle nahe des Dorfes Obselau bei Aken. Hier zweigt vom alten Deich der neue ab. Ein moderner Bau mit Sickerungsmulde und Deichverteidigungsweg auf der Landseite – eine Freude für den Hochwasserschutz. Noch bei der Elbeflut 2013 mussten die Sandsäcke mit der Schubkarre zur Deichsicherung transportiert werden. Seitdem sei die Akzeptanz zum Naturschutzgroßprojekt gewachsen, registrieren Astrid Eichhorn und ihre Projektpartner.
Auf der EXPO 2015 ist das Naturschutzgroßprojekt „Mittlere Elbe“ ein Vorzeige-Modell für den Erhalt natürlicher Ökosysteme, explizit für die Synergie von Natur- und Hochwasserschutz. In einer nachgebildeten Auenlandschaft mit Wald und Kornfeld kann der Besucher mittels einer Wippe ein Hochwasser simulieren. Dann ist zu sehen, wie natürliche Überflutungsflächen die Wassermassen aufnehmen, ein Absenken des Hochwasserspiegels bewirken und ihren Beitrag zur Wasserreinigung leisten.
Die echte Natur im Steckby-Lödderitzer Forst ergreift unterdessen mehr und mehr Besitz vom neuen Deich. Der Klee ist derzeit deutlich in Vormachtstellung. Ein Botaniker werde demnächst hier fachkundigen Auges drauf schauen, sagt Astrid Eichhorn und spricht von Zielbiotopen. Sie zeigt auf eine Distel: „Dieser Pfahlwurzler gehört mit Sicherheit nicht auf den Deich.“ Hier hilft der Mensch der natürlichen Eigendynamik etwas nach – in diesem Falle mit einer Mischung aus Saatgut von auentypischen Gräsern und Pflanzen, die den Deich mit ihren flachen Wurzeln festigen.
Autorin: Kathrain Graubaum (Text/Foto)
BU: Das UNESCO-Biosphärenreservat Mittlere Elbe ist Vorzeige-Modell für die gelungene Synergie von Natur- und Hochwasserschutz - Projektleiterin Dr. Astrid Eichhorn auf dem neuen Deich, der bei Aken in Sachsen-Anhalt vom alten (rechts) abzweigt. Links ist der sogenannte Verteidigungsweg zu sehen.