Im Reich der Bilder

Am Ende läuft es doch anders als geplant. Die Kollegen aus der Uni-Verwaltung sind da, und Georg Rose ist bereit, ihnen vom neuen Forschungscampus STIMULATE zu erzählen – aber der Konferenzraum ist besetzt. Dann hält Rose seinen Vortrag über bildgeführte, minimal-invasive Verfahren eben kurzerhand im Angiografie-Labor. Damit sind die eintreffenden Kollegen sofort im Bann und mittendrin im Forscherleben des Medizintechnikers Georg Rose – so wie wir. Einen Arbeitstag lang haben wir den Magdeburger Wissenschaftler begleitet.

9.00 Uhr


Georg Rose lässt die klare Morgenluft durch sein geöffnetes Bürofenster. Viel Himmel ist hier oben im Dachgeschoss zu sehen. Aus dem strahlenden Blau dieses Herbsttages leuchtet die Spitze des Jahrtausendturms im nahen Elbauenpark. Seit der Bundesgartenschau 1999 in Magdeburg gehört der „schlauste Turm der Welt“ zu den Attraktionen der Stadt. Über 6000 Jahre Entwicklung von Mensch und Technik sind hier zu sehen und zu erleben. Später wird uns Medizintechniker Rose das blinkende und Geräusche machende Miniatur-Modell seines Magnetresonanztomographen zeigen. Gerade ist es fertig geworden und wird bald als modernstes Exponat in den benachbarten Jahrtausendturm einziehen. „Ich kann Ihnen leider keinen Kaffee anbieten.“ Der Professor ist etwas verlegen. Er hätte auch selber gern einen getrunken, bezeichnet sich als Kaffee- Freak. „Sehen Sie, so kommt es, wenn Selbstbedienung an der Maschine beschlossene Sache, aber die Zuständigkeit für den Kaffee-Nachschub nicht eindeutig geklärt ist.“ Rose organisiert schnell einen Kaffee-Besorger. Kaffee ist für ihn ein wichtiger „Stimulator“. Man kommt da nicht umhin, eine gedankliche Brücke zu STIMULATE zu schlagen. Im Frühjahr dieses Jahres startete das Solution Centre for Image Guided Local Therapies in seine erste Phase, eine einjährige auf Probe. Der Forschungscampus wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Hauptindustriepartner ist die Siemens Healthcare AG, weitere Partner sind mittelständische Unternehmen aus der Region. Nachwuchswissenschaftler (er)finden auf diesem Forschungscampus neue medizintechnische Therapien. Innovative Ideen werden hier geboren und nehmen Gestalt an. Folgerichtig hat STIMULATE in der „Experimentellen Fabrik“ der Otto-von- Guericke-Universität ein Zuhause gefunden. Georg Rose ist gedanklicher Vater von STIMULATE und in logischer Folge jetzt auch als dessen Oberhaupt für seine „Aufzucht“ verantwortlich. Das Entwicklungsziel für dieses Kind: Bis 2022 soll es zum „Deutschen Zentrum für bildgestützte Medizin“ heranwachsen. Rose entschuldigt sich noch einmal, als er unsere Blicke auf seinem mehr als aufgeräumten, quasi leeren Schreibtisch landen sieht. Er habe ja noch ein Erst-Büro mit viel Papier darin und mit einer Sekretärin im Vorzimmer, betont der Leiter des Lehrstuhls für Medizinische Telematik und Medizintechnik. Allerdings werde er nun auch dieses Zweit-Büro mehr und mehr mit Leben, sprich: mit seiner Anwesenheit, füllen, hat sich Rose vorgenommen. Jetzt sieht er den Moment gekommen, auf etwas Erfreuliches hinzuweisen: „Darf ich Sie auf dieses Möbelstück aufmerksam machen ...“, er zeigt belustigt auf das rote Sofa am Fenster. „Nach 12 Wochen Wartezeit gestern geliefert!“

9.15 Uhr

Der erste Gesprächstermin klopft an die Tür: Dr. Christoph Benckert kommt von der Deutschen Akademie für Mikrotherapie in Magdeburg. Der ausgebildete Chirurg hat sich eine Auszeit genommen von seiner praktischen Arbeit am OP-Tisch; unter anderem, um Ausbildungskonzepte zu entwickeln. Gemeinsam mit STIMULATE konzipiert die Akademie einen Weiterbildungslehrgang für Mediziner und Medizintechniker. „Moderne Bildgebungsverfahren halten rasanten Einzug in den Operationsräumen, werden dort für stete Neuerungen sorgen“, sagt Rose. „Da steht neben dem Mediziner auch der Medizintechniker mit am OP-Tisch. Beide müssen sich regelmäßig auf den neuesten Stand bringen.“

10.15 Uhr

Der Kaffeeautomat ist frisch bestückt. Dreimal Knopfdruck sind drei Striche in der Liste, die jeder Nutzer am Monatsende zu seinem Beitrag für die Kaffeekasse zusammenzählt. „Herr Professor, hätten Sie auch Zucker?“ Bei dieser Gelegenheit stellt Rose klar, dass ihn keiner aus seinem Team mit Professor anredet. Zu seinem Team zählt er auch die Geschäftsstelle von STIMULATE. Vier junge Leute sorgen dafür, dass der Forschungscampus funktioniert wie eine „Unternehmung“, so findet Rose den Unterschied zum Unternehmen sprachlich treffend formuliert.

10.25 Uhr

Die Mitarbeiter der Geschäftsstelle treffen sich zum Jour fixe im Rose-Büro. Das rote Sofa fällt auf. „Ah, ist es endlich da ...“ Mobiliar-Beschaffung ist auch in der Beratung ein Thema. Der Vormieter hat seine Möbel mitgenommen. Der Besprechungsraum muss neu eingerichtet werden. Themen von höherer Priorität sind Strategie- Überlegungen für Drittmittelanträge und der Bericht für das BMBF. Schließlich will STIMULATE in ein paar Monaten im Rahmen seiner Förderrichtlinie in die „Hauptphase“ eintreten und sich weiter zu einem Zentrum entwickeln, in dem sich junge kluge Köpfe aus den verschiedensten Fakultäten zusammenfinden.

11.15 Uhr

Zwei solche schlauen Köpfe schieben sich durch den Türspalt, erinnern an ihren Termin beim „Doktorvater“ Rose. Sie stellen ihm eine Software vor, die sie entwickelt haben, um ihre Forschungsergebnisse zur CT-Rekonstruktion besser demonstrieren zu können. Das in Sekundenschnelle errechnete Bild zeigt beispielsweise ganz genau den Fluss des Kontrastmittels in den Gefäßen des Gehirns. So lassen sich Durchblutungsstörungen gut erkennen. Im Fokus der Forschungen von STIMULATE stehen so genannte Volkskrankheiten wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Krebserkrankungen.

12.00 Uhr

Das Herz von STIMULATE schlägt im Erdgeschoss der Experimentellen Fabrik – im Angiografie-Labor. Seiner Fitness wegen nimmt Rose den Weg über die imposant geschwungene Freitreppe im Bauhausstil – manchmal. Wir fahren des Zeitdrucks wegen mit dem Fahrstuhl – und auch, weil wir schwere Fototechnik dabeihaben. Das Labor besteht aus einem Raum mit dem Magnetresonanztomographen (MRT) und einem OP-Raum mit riesigem Hightech-Röntgenroboter, der fachlich exakt formuliert ein „3D-Angiographiesystem“ ist und gestochen scharfe Bilder liefert. Die sind unentbehrlich, wenn es darum geht, mit feinsten Kathetern zu schwer zugänglichen Stellen im Körper vorzudringen, um dort Verengungen, Verstopfungen oder Tumore zu bekämpfen. Die so genannten „Intelligenten Katheter“, kurz INKA, sind ein Forschungsprojekt, das lebenswichtig sei für STIMULATE, betont Georg Rose.
Mit einem Mitarbeiter bespricht er kurz die bevorstehende Präsentation am Nachmittag. Rose hat die Universitäts- Verwaltung eingeladen: „Die Mitarbeiter in den Personal-, Finanz-, Bau- und juristischen Abteilungen haben einen großen Anteil an den Erfolgen der Wissenschaftler, werden aber nie zu Veranstaltungen der Forscher eingeladen. Das wollen wir ändern!“, ist die Motivation für den Chef von STIMULATE, mit diesen Uni- Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Zum Beispiel über die neue technische Methode, ein Aneurysma minimal-invasiv zu behandeln. Sie wird gerade von Rose und seinen Mitarbeitern entwickelt.

12.30 Uhr


Ein Telefonat mit dem Rektor der Uni wurde verschoben. Die Lücke füllt Rose mit einer Pause. Mittagspause. Der Gang in die Mensa ist nicht alltäglich. „Ich habe so viel in Bewegung gebracht“, sagt er, „jetzt will ich das alles auch in Bewegung halten.“ Was für ihn selbst Einbuße an Ruhephasen bedeutet, Einbuße an Zeit für kreative Ideen. Einbuße an Zeit mit seinen beiden Söhnen. Von Montag bis Mittwoch muss er sich sogar allein um sie kümmern. Seine Frau ist beruflich bedingt die halbe Woche unterwegs. Es wäre an der Zeit, meint der 52-Jährige, seine Work-Life-Balance neu auszutarieren. Sein Handy reißt ihn aus diesem Gedankengang. Der Rektor. Es geht um eine Professur für STIMULATE.

13.00 Uhr

Als wir in Roses Land Rover steigen, erzählt er von seinem Hobby, das gleichsam zu kurz kommt seit geraumer Zeit: Off-Road-Fahrten. Über den Magdeburger Ring geht es dagegen im nervigen Schritttempo an Baustellen vorbei. Im Uniklinikum wartet der Direktor des Instituts für Neuroradiologie, Prof. Dr. Martin Skalej. Der Mediziner steht im ständigen Austausch mit den Kollegen aus der Medizintechnik. In der Neuroradiologie ist ein Duplikat des Labor-OPs eingerichtet. In dessen Anlage laufen auch Programme, die von Georg Rose und seinen Mitarbeitern entwickelt wurden.

14.15 Uhr

2006 bin ich dem Ruf nach Magdeburg gefolgt“, erzählt Georg Rose auf der Rückfahrt. In den vorangegangenen Jahren beim Elektronik- und Medizintechnikkonzern Philips waren Aachen, Hamburg, Taipeh und Briarcliff in den USA seine beruflichen Stationen. In jener Zeit entwickelte Rose auch seine Kompetenzen im Bereich der medizintechnischen Schlaganfall-Behandlung. Die Ausschreibung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg allerdings lockte mit einer bis dato noch nicht erlebten Freiheit in der Forschung. Dass der Wissenschaftler sie in vollen Zügen auskostet, ist offensichtlich.

14.30 Uhr

Sekretärin Katharina Köpke im Erst-Büro sieht ihren Chef heute zum ersten und einzigen Mal. Die Zeit reicht für die Unterschriftenmappe und für einen Kaffee. Den bringt ihm seine Sekretärin – uns auch. Derweil registriert Rose an die 70 E-Mails. Aufmerksam lesen kann er sie erst am Abend zuhause. „Dass ich eine wichtige übersehe und ungelesen lösche, muss ich weitestgehend vermeiden“, sagt Rose. Er ärgert sich über die Flut elektronischer Nachrichten, deren Bearbeitung 30 Prozent seiner Arbeitszeit einnimmt.

15.15 Uhr

Georg Rose sitzt im Rettungswagen. Beim Schlaganfall zählt jede Minute. Dem Professor geht es gut. Er wirkt entspannt. ASTER, seine erste Forschungsidee, die er nach Magdeburg mitbrachte, hat Gestalt angenommen. ASTER ist das Kürzel für „Akut-Schlaganfallversorgung-Telematikplattform für den Rettungswagen“. Nun steht er hier, der „Demonstrator“ des multimedialen Rettungswagens der Zukunft. Gleich werden die Verwaltungsangestellten seine Bordtechnik mit Video und intelligentem Verkehrsleitsystem bewundern – ein Novum im internationalen Rettungswesen überhaupt.
Das Foyer der Experimentellen Fabrik füllt sich mit den Gästen. Die Tür zum Angiografie-Labor (sonst nur mit einem Code zugänglich) ist weit geöffnet. Großes Interesse breitet sich aus. „Tolle Ideen. Wie lange dauert das noch? Kann ich davon noch profitieren?“, fragt eine Kollegin. Möglicherweise verlieren die Volkskrankheiten von heute in der Zukunft ihre Schrecken.

17.00 Uhr

Während die jungen Wissenschaftler von STIMULATE noch etliche Fragen beantworten, macht sich ihr Chef auf den Weg zur „Wissenschaft im Rathaus“. Um 18 Uhr wird Georg Rose dort mit seinem Vortrag über die Medizintechnik der Zukunft erwartet. Es ist dunkel. In seinem Rückspiegel begleitet ihn die beleuchtete Spitze des Jahrtausendturms, des schlausten Turms der Welt, ein Stück des Weges. Prof. Dr. Georg Rose wurde 1961 in Carlsruhe (Oberschlesien) geboren und ist in Düsseldorf aufgewachsen. Er studierte Physik in Düsseldorf und Aachen und promovierte in Theoretischer Physik. Nach einer Postdoc-Tätigkeit in der Neurologie im Bereich der Gehirnforschung nahm er ein Angebot der Philips-Forschungslaboratorien an. Dort forschte er an den Unternehmensstandorten in Aachen, Hamburg, Taipeh und Briarcliff/USA im Bereich der automatischen Spracherkennung und Medizintechnik. Er wurde zweimal mit dem Innovationspreis der Philips-Forschung ausgezeichnet. 2006 nahm Rose den Ruf an die Otto-von-Guericke Universität im Magdeburg an. Die Schwerpunkte seiner Lehr- und Forschungstätigkeiten liegen im Bereich der Medizintechnik und medizinischen Telematik. Er hat den internationalen Masterstudiengang „Medical Systems Engineering“ aufgebaut und zahlreiche internationale Austauschprogramme etabliert. Für die Forschungserfolge und den Aufbau der Medizintechnik zum Universitätsschwerpunkt erhielt Georg Rose 2012 den Otto-von-Guericke Forschungspreis. Seit 2010 ist er regelmäßig Gastdozent an der Universität Edinburgh/Schottland. Seit 2013 ist er Vorstandsvorsitzender des Forschungscampus STIMULATE. Georg Rose ist verheiratet und hat zwei Söhne.

(Quelle: BMBF, Magazin „Unternehmen Region“, 3/2013)

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