Im Aufwind der Wissenschaft sollen Blinde sehen lernen

Die Erde ist eine Scheibe. Das war ein häufig umstrittenes Dogma. Bis Kopernikus in den Raum stellte, dass die Erde seinen Erkenntnissen nach eine Kugel ist. – Prof. Dr. Bernhard Sabel zieht gern diesen Vergleich zu seinem Forschungsgebiet: „Blinde lernen sehen – der Glaube, Blindheit nach einer Hirnschädigung sei nicht umkehrbar hält sich selbst in der Medizin recht hartnäckig“, erlebt der Direktor des Magdeburger Instituts für Medizinische Psychologie immer wieder. Allerdings registriere er in jüngster Zeit ein verstärktes Interesse für seine bahnbrechenden Forschungsergebnisse. Die weisen nach, dass das Gehirn Schäden im Sehnerv kompensieren kann. Seit 1992 wird unter der Leitung von Bernhard Sabel in der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität auf dem Gebiet der Wiederherstellung der Sehleistung geforscht. Stimulation mit Wechselstrom und Sehtraining stehen dabei im Focus. Besonders intensiv entwickeln sich jüngst die Kooperationsbeziehungen zu China.

Fan Zhang aus China bleibt zunächst nicht viel Zeit, ihren deutschen Professor kennen zu lernen. Während sie gerade ihren Koffer auspackt und sich im Gästehaus der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg einrichtet, packt Prof. Dr. Bernhard Sabel ein, was er alles so braucht für einen vierwöchigen Aufenthalt in China. Genau vor einem Jahr hatte er in Peking Vorträge darüber gehalten, dass Blindheit nach chronischen Sehnervschädigungen nicht zwangsläufig unumkehrbar ist. Seit dem ist er für die chinesische Wissenschaft ein gefragter Kooperationspartner auf diesem Forschungsgebiet. Eine seiner wissenschaftlichen Theorien wurde mittlerweile ins Chinesische übersetzt. Derzeit entsteht ein gemeinsamer Lehrbuchbeitrag.

Während seines bevorstehenden China-Aufenthaltes wird Sabel auf verschiedenen Kongressen Vorträge halten und ist von der Chinesischen Wissenschaftsakademie als Gastprofessor eingeladen.

Fan Zhang stieß im Internet auf das zukunftsweisende Forschungsprojekt in Magdeburg, während sie an der Universität in Glasgow ihren Master-Abschluss auf dem Gebiet der Neurowissenschaften machte. Vorher hatte sie in ihrem Heimatland China den Bachelor in Computerwissenschaften und ihren Master in Astrophysik absolviert. Das war für den Magdeburger Institutsdirektor ausschlaggebend, ihre Bewerbung um eine Doktorandenstelle anzunehmen. „In unserer Forschung spielt der Computer eine zentrale Rolle. Er simuliert die Hirnaktivitäten. Vorher aber muss die Software dafür entwickelt sein, damit der Computer versteht, was das menschliche Gehirn ihm sagen will. Die Analyse von Galaxien und von Hirnzellen haben einiges gemeinsam“, meint Sabel. Die junge chinesische Kollegin sei in dieser Hinsicht in einer idealen Fächerkombination ausgebildet, ist der Direktor über den Zuwachs an seinem Institut erfreut. Er verspricht sich für die nächsten drei Jahre eine gute Zusammenarbeit mit Fan Zhang in seinem internationalen Forscherteam.

Die 30-jährige Fan Zhang beschäftigt sich in nächster Zeit mit Musteranalysen der „Hirnaktivität bei der Erholung von der Blindheit“. Innerhalb ihres wissenschaftlichen Kollegenkreises verständigt sie sich in einem perfekten Englisch. Doch habe sie schon gemerkt, dass ihr das Englisch im Leben außerhalb vom Uni-Campus nicht viel weiter hilft. Aber Fan Zhang hat sich schon längst schlau gemacht, welchen Deutsch-Kurs sie belegen will.

Gerade verschwindet die zierliche junge Frau hinter einem Stapel Bücher, den der Professor vor ihr auftürmt. Aber sie strahlt und ist hoch erfreut über so viel „eingebundenes“ Wissen über die Plastizität des Gehirns. Nur etwa zehn Prozent unserer möglichen Hirnleistung seien beansprucht, sagt Professor Sabel. Seine Forschung am Institut für Medizinische Psychologie konzentriert sich darauf, nach Hirnschädigungen ungenutztes Potenzial zu wecken und zu aktivieren.

Schädigungen des Sehsystems sind häufig die Folge eines Schlaganfalls, eines Schädelhirntraumas oder von Schäden im Sehnerv oder der Netzhaut. Unter der Leitung von Professor Sabel wurde eine erfolgversprechende Wechselstrom-Therapie entwickelt. Über Elektroden, die dem Patienten an entsprechenden Stellen auf die Haut geklebt werden, erhält er schwache Stromreize. Die regen andere Nervenzellen im Gehirn an und trainieren sie dafür, den Verlust des „Sehens“ zu kompensieren.

Was da im Gehirn nach einem Schaden passiert, vergleicht Sabel mit einer Baustelle auf der Straße, die den Verkehrsfluss unterbricht. „Der Verkehr muss sich dann andere Wege suchen, um ans Ziel zu gelangen.“ Unter anderem wird es die Aufgabe von Fan Zhang sein, mit Hilfe von Bildgebungsverfahren darzustellen, wie die verschiedenen Hirnteile miteinander verbunden sind. Das nämlich müsse man schließlich wissen, damit auch Umleitungen auf  der Informationsautobahn im Gehirn zum Ziel führen, meint Sabel.

Drei dicke Wälzer hat sich Fan Zhang ausgesucht. Die wird sie in den nächsten Wochen studieren. Ob sie lieber zusammen mit ihrem Professor nach China reisen würde? Sie komme ja gerade von dort, meint sie kopfschüttelnd und dass sie sehr neugierig ist auf ihre Forschertätigkeit in Magdeburg. „China befindet sich im wissenschaftlichen Aufwind“, ergänzt Professor Sabel. Und er betont: „Die chinesischen Nachwuchswissenschaftler sind sehr offen und interessiert. Sie wollen viel lernen, und das Land fördert rege den wissenschaftlichen Austausch auch im Ausland.“

Und was verspricht sich Sabel selbst von seiner Reise nach China? Eine ebensolche Aufgeschlossenheit vor Ort gegenüber seiner Forschung, auch Unterstützung und gedanklichen Austausch. Aber das sei keine Frage, sagt er. Das habe er ja schon mehrfach positiv erfahren. Und er hofft auf noch mehr Möglichkeiten seine Visionen umzusetzen.


Autorin/Fotografin: Kathrain Graubaum

Kontakt:
Prof. Dr. Bernhard Sabel
Institut für Medizinische Psychologie
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Tel. 0391/6721800
Bernhard.sabel@med.ovgu.de

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