Orthopädische Hilfsmittel aus dem Norden Sachsen-Anhalts

Michael Günther hat nicht nur ein Ventil erfunden, das Prothesenträgern das Leben erleichtert. Der Ingenieur für Orthopädietechnik ging mehrmals ins Ausland und arbeitete in den alten Bundesländern, ehe er nach Parey im Norden Sachsen-Anhalts zurückkehrte. Jetzt, als sein eigener Chef und Entwickler von orthopädischen Hilfsmitteln, wurde der 31-Jährige Preisträger im Land der Ideen. Eine Bilderbuchkarriere.

„Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus“: Michael Günther kennt das Lied vom wandernden Gesellen, der loszieht, um sich praktisch zu verdingen und anschließend wieder in die Heimat zurückzukehren. In gewisser Weise war auch er in der Welt unterwegs. Jetzt ist der Ingenieur für Orthopädietechnik nicht nur in sein Dorf im Nordosten Sachsen-Anhalts zurückgekehrt, sondern auch sein eigener Chef. Einer, der investiert, der Fachkräfte einstellt und der sagt: "Für mich war klar, dass das klappt."

Der zurückhaltende junge Mann spricht über seine Bilderbuchlaufbahn zwischen Parey, den USA, Australien, Gießen, Heidelberg, München und wieder Parey, als sei das ein völlig normaler Weg. Schließlich habe ihm alles zur Verfügung gestanden, was er für die Selbständigkeit brauchte: eine Lehre und ein Studium, perfekte Englischkenntnisse, das sichere Vertrauen in sein Können, ein potentes Netzwerk und ein zuverlässiger Partner.

Dann überzieht aber doch ein Schmunzeln das Gesicht des 31-Jährigen: "Ich muss gestehen: Wir wussten zu Beginn nicht genau, was unser Unternehmen überhaupt würde leisten können." Inzwischen stehen die Säulen der Guenther Bionics GmbH fest: Entwicklung und Zulieferung von Bauteilen für Prothesen und Fertigung von orthopädischen  Silikonteilen. Dass er jetzt, zwei Jahre nach der Gründung seiner Firma, eine Produktionshalle baut, "daran war nicht zu denken." Die Halle entsteht in der Autowerkstatt seines Vaters in Parey. Nebenan, im Erdgeschoss des Elternhauses, richtet Günther Büros ein. Er will zu seinen drei Kollegen weitere Mitarbeiter einstellen - von einer Sekretärin ist die Rede, und von Orthopädietechnikern.

Wer  verstehen will, woher Michael Günther sein Vertrauen in sich und die natürliche Souveränität nimmt, die er ausstrahlt,  muss den Blick zurück richten. Auf Günthers Vorbild, den Vater, der im Rollstuhl saß und seinen Autohandel clever und willensstark bis zu seinem Tod führte. Auf das Jahr in Amerika, vom Deutschen Bundestag im Rahmen eines Austauschprogramms  organisiert. "Das hat mich glatt fünf Jahre weitergebracht", sagt Michael Günther.

Dieses Jahr, in dem er an einem College lernte und gleichzeitig in seinem Beruf arbeitete, habe ihn "angezündet". Danach, sagt er, sei er voller Energie gewesen, holte in Deutschland sein Abitur nach und schrieb sich in Gießen für den Ingenieursstudiengang Orthopädie ein. In Heidelberg verfasste er seine Diplomarbeit, gab Seminare an Meisterschulen und arbeitete als Fachübersetzer. "Ich war ständig mit den neusten technischen Entwicklungen in Kontakt, so richtig am Puls der Zeit – ich konnte dadurch mein Wissen extrem ausbauen." Und nicht nur das. Auch sein Netzwerk wuchs beträchtlich.

Das spülte ihn schließlich nach München, in die Entwicklungsabteilung eines international tätigen Zulieferers. Innerhalb nur eines Jahres übernahm er die Abteilung, übte sich darin, Aufträge selbständig umzusetzen und Mitarbeiter anzuleiten. Und nahm schließlich seinen Hut. "Das Team war super, ich durfte nach China, Malaysia und Amerika reisen, das Geld stimmte. Aber ich habe mich gefragt: Will ich das auch in fünf Jahren machen?" Nein. Günther wollte selbst bestimmen, womit er sich befasst.

Inzwischen haben mehrere Firmen ihre Skepsis aufgegeben, sie setzen auf Günther Bionics, geben Prothesen-Teile in Auftrag und schließen mittelfristige Zuliefererverträge ab. Im nächsten Monat startet eine Kooperation, in der die Pareyer nicht nur Silikonteile für einen der Platzhirsche auf dem Markt der Orthopädietechnik anfertigen, sondern von diesem auch vermarktet wird. "Das bringt noch mehr Aufträge, und dafür brauchen wir Platz!"

Während in der Werkstatt Kabel gezogen und Trockenbauwände errichtet werden, formt ein Mitarbeiter hinter einer Glastür mit ruhiger Hand Silikon auf einem Gipsmodell aus. Der kleine fingerlose Handschuh soll einem spastischen Kind helfen, die verkrümmte Hand so weit aufzudehnen, dass es zugreifen kann. Guenther Bionics stellt die Silikonteile nach einem Verfahren her, das Günther selbst entwickelt hat. "Damit sind wir als Silikonverarbeiter einer der ganz wenigen Akteure am Markt."

Seine Innovationskraft hat das Unternehmen nun zum Preisträger in der Initiative "Land der Ideen" gemacht. Michael Günther und seine Kollegen werden für ein Ventil gewürdigt, das sie entwickelt und patentiert haben. Es sitzt am unteren Ende einer Prothese, die einen Beinstumpf umschließt. Der Patient schlüpft hinein, die Luft entweicht, und das Ventil sorgt dafür, dass das Vakuum erhalten und damit die Prothese am Körper bleibt. Günthers Ventil ist flacher als andere, ein Verriegelungssystem löst mit einem "Klick" das lästige Schrauben ab, der Patient kann es selbst ausbauen und reinigen. "Pflege und Handhabung sind also viel einfacher. Solche Optimierungen sind eine wichtige Säule für uns."

Michael Günther sitzt jetzt viel am Computer, sucht nach Bauteilen, die er überarbeiten kann, tauscht sich mit seinem Partner aus, der noch in Amerika an seiner Promotion arbeitet - und hält den Kontakt zu Sanitätshäusern. "Diese direkte Arbeit in der Patientenversorgung, das darf mir nie verloren gehen." Nur im Austausch mit Betroffenen könne er Innovationen in der Versorgung finden – und das zurückbekommen, was ihn zu seinem Beruf geführt habe: Den Dank der Menschen, denen er mit seinen Ideen und den geschickten Händen seiner Mitarbeiter helfen konnte.


Autorin/ Fotografin: Kathrin Wöhler

Kontakt:
Web: www.guentherbionics.de

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