MIFA-Sangerhausen: Vom VEB zum Global-Player

In der großen Halle herrscht regsame Betriebsamkeit: Kleine rote Kinderfahrräder hängen an Haken und ziehen an den Beschäftigten vorbei: Hier werden Sattel montiert, dort Lenkräder eingesetzt. Eine Maschine trennt im Minutentakt Ketten für die Fahrräder. Mit einem leisen „Plumps“ fallen diese in eine Kiste, die weggenommen wird, sobald sie voll ist.

In einer Ecke ziehen drei Frauen in mühseliger Handarbeit jede einzelne Speiche in eine der Radfelgen. Pro Schicht schafft eine hervorragend eingearbeitete Mitarbeiterin gut 200 Räder. Schräg gegenüber erledigen hochmoderne Anlagen die gleiche Aufgabe – jede Minute gibt die computergesteuerte Anlage eine komplette Radfelge aus: Leere Felge in die Maschine, Klappe schließen. Trommeln rotieren, es summt und brummt und dann wird das Speichenrad auf der anderen Seite aufs Fließband geschoben. Jede Maschine schafft das Vierfache einer Arbeiterin, vier Maschinen werden von einer MIFA-Mitarbeiterin betreut.

Ein Stück weiter werden in riesigen Brennöfen die Fahrradrahmen in den gewünschten Farben grundiert und lackiert. Am anderen Ende dieses riesigen Arbeitssaales kontrollieren mehrere Frauen die Muffen an den Lenkrädern. Überall an den Wänden stehen in Regalen Lenker, Rahmen, Muffen, Schrauben, Bremsen und Klingeln. Hier, mitten in Sangerhausen, stellt die MIFA Mitteldeutsche Fahrradwerke AG Fahrräder in allen Variationen her – vom normalen Cityrad bis zum hypermodernen E-Bike, alles wird in diesen Hallen gefertigt. Seit vielen Jahren ist die MIFA der absatzstärkste deutsche Fahrradhersteller. Im Jahr 2011 verkaufte die MIFA 644.000 Fahrräder und erzielte damit einen Umsatzerlös von 100,5 Millionen Euro. Das bedeutet eine Steigerung um 31,4% gegenüber dem Jahr 2010, als 76,5 Millionen Euro bei rund 593.000 verkauften Fahrrädern umgesetzt worden waren. Das Besondere: Die MIFA hat zwar auch eigene Fahrradmarken, doch produziert sie Fahrräder hauptsächlich für große Einzelhandelsketten. Ob ALDI, Metro oder Edeka – die meisten dort verkauften Räder stammen aus Sangerhausen.

knapp 500 festangestellte Mitarbeiter beschäftigt die MIFA in Sangerhausen. Während der Hauptproduktionszeit im Frühjahr kommen noch gut 350 Aushilfskräfte für die Montage und den Versand dazu. Gearbeitet wird in drei Schichten, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Im Herbst und Winter werden die Schichten und die Produktionszahlen stark gedrosselt – da Fahrradverkauf ein Frühjahrs- und Sommergeschäft ist. Seit 2011 werden auch E-Bikes gebaut für Großabnehmer – fast ausschließlich in der Nachtschicht, gut 5.000 Stück: „E-Bikes sind ein wohltuender Schub für die gesamte Branche. Besonders wichtig für die Nachhaltigkeit dieses Booms erscheint mir, dass mittlerweile auch die „junge Familie“ das E-Bike für sich entdeckt und das bequeme Fahren zu schätzen lernt“, sagte Vorstand Peter Wicht auf einer Veranstaltung in München. Und überraschte wenig später die gesamte Fahrradbranche mit einer E-Bike-Übernahme.

Schon seit 1907 werden in Sangerhausen Zweiräder hergestellt. Damals gründeten der Kaufmann Emil Schütze und der Fahrradspezialist Emil Hesse eine Fahrradfabrik. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die MIFA einer der bedeutendsten deutschen Fahrradproduzenten. 1925 wurde ein Schweizer mit einem MIFA-Rennrad Profiweltmeister. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde aus der MIFA ein „Volkseigener Betrieb“, der weiterhin Maßstäbe setzte: 1967 produzierte der Betrieb das erste Klappfahrrad, zwanzig Jahre später stellte das Unternehmen auf der Leipziger Messe das erste BMX-Rad vor.

Nach der Wende übernahmen der heutige Alleinvorstand Peter Wicht und Michael Lehmann das Unternehmen. Sie schafften es, dass MIFA bereits im Jahr 2000 ein profitables und nachhaltig wachsendes Unternehmen wurde. Heute beansprucht die MIFA für sich, die modernste Fahrradfabrik Europas zu sein, die auf effektivste Weise Fahrräder herstellt. Dabei steht der Leitspruch: „Die Liebe zum Fahrradfahren bestimmt unser Handeln“ im Mittelpunkt der Unternehmensphilosophie. Und genau dieses Handeln hat in den vergangenen Jahren immer wieder für positive Überraschungen gesorgt: 2004 wurde die MIFA in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und wagte den Sprung an die Börse. Im April 2012 lag der Kurs bei über 10 Euro. Auch die Entwicklung einer hochmodernen maschinellen „Einspeicherei“ für Fahrräder verblüffte die Mitbewerber. Das Verfahren ermöglicht es innerhalb kürzester Zeit ein Rad mit den Speichen zu bestücken. Verblüffende Zahlen: Ein sehr gut ausgebildeter Mensch schafft es, mit herkömmlicher Technik knapp 300 Räder in einer normalen Schicht zu bespeichen, eine Maschine schafft bis zum Vierfachen.

Die nächste MIFA-Überraschung wurde Ende 2011 bekanntgegeben: Der Finanz-Investor Carsten Maschmeyer (Gründer von AWD) übernahm im Oktober 29 Prozent der Mitteldeutschen Fahrradwerke MIFA. Mittlerweile hat Carsten Maschmeyer seine Anteile an der MIFA bereits aufgestockt und hält seit Mitte März 2012 etwa 33%.

Jetzt der nächste Coup: Am 20. März 2012 übernahm die MIFA mehrheitlich den deutschen E-Bike-Hersteller Grace GmbH & Co. KG. Das Unternehmen bietet ausschließlich innovative und hochwertige Elektroräder im gehobenen Preissegment an. Grace produziert zum Beispiel das gerade auf den Markt gekommene, technologisch und gestalterisch äußerst anspruchsvolle Smart E-Bike für den Daimler-Konzern. „Jetzt können wir qualitativ sehr hochwertige, stylische und auch exklusive E-Bikes anbieten“, sagte MIFA-Chef Peter Wicht bei der Vertragsunterzeichnung und führte aus: „Die Übernahme macht uns zu einem Anbieter im Premiumsegment und das bedeutet für die MIFA auch künftig ein gesichertes Wachstum, insbesondere bei der ‚Generation Apple‘.“

Die Übernahme von Grace (über den Verkaufspreis wurde Stillschweigen bewahrt) dürfte für MIFA lukrativ werden: Der Marktpreis für ein normales E-Bike liegt bei rund 2.400 Euro. Allein in Deutschland wurden 2011 gut 310.000 E-Bikes verkauft. Zum Vergleich: Elektroautos wurden lediglich 1.800 zugelassen. Für Albert Herresthal, Geschäftsführer des Verbundes Service und Fahrrad (VSF e.V.) bedeutet dies: „Die Elektromobilität im Fahrrad ist bereits gelebte Realität, während die Autoindustrie noch an optimalen Lösungen tüftelt.“ Fakt ist: Der Radverkehr löst tatsächlich viele Probleme, die den Menschen heute Sorgen bereiten: Ob Verkehrsstau, Feinstaubbelastung, Abgase, Lärm, globale Klimaerwärmung, hohe Spritpreise, Gesundheitsprobleme oder Bewegungsarmut! Mit dem Fahrrad entfallen alle diese Sorgen. Und daran hat auch die MIFA aus Sangerhausen in Sachsen-Anhalt einen großen Anteil – sowohl mit mechanischen als auch mit elektrisch betriebenen Fahrrädern.

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