Hallesche Forscher kopieren Baupläne von Schwämmen und Muscheln

Filipe Natalio liebt große Sprünge. Als Jugendlicher war der heute 34-jährige Chemiker Portugiesischer Meister im Trampolinspringen. Auch als Wissenschaftler erregt der Leiter der neuen Nachwuchsgruppe „Bioanorganische und Biomimetische Chemie“ der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg (MLU) viel Aufmerksamkeit. In dem renommierten, weltweit beachteten amerikanischen Magazin Science berichtete er im März als Hauptautor einer Studie, wie es gelungen ist, „Erfolgsmodelle“ aus der Natur zu entschlüsseln, zu kopieren und sie für technische Entwicklungen zu nutzen.

Entstanden ist diese Arbeit in Zusammenarbeit  mit dem Max-Planck-Institut für Polymerforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort war Natalio viele Jahre beschäftigt bevor er im Dezember 2012 an die MLU nach Halle kam. Dort führt er als Juniorprofessor diese wegweisenden Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Biomimetik fort.

Für Halle habe er sich entschieden, weil an der traditionsreichen Universität ein aufgeschlossenes Klima für neue Ideen und ungewöhnliche Wege herrsche, sagt er.

Natalio ist an der portugiesischen Küste zum Atlantischen Ozean aufgewachsen. „Ich hatte von Kindheit an eine Beziehung zum Meer“, erklärt er. Dieses maritime Verhältnis pflegt er bis heute – als Wissenschaftler und als Hobbysegler. Er erforscht die Strukturen von Biomineralen wie Muschelschalen, Meeresschwämme und Korallen. Sie besitzen für ihn einzigartige wertvolle Eigenschaften, die es lohnt zu entschlüsseln und dadurch nutzbar zu machen. „Schwämme sind zum Beispiel sehr widerstandsfähig und trotzdem beweglich. Sie können Licht leiten und sind Leichtgewichte“, erklärt der Wissenschaftler. Anregungen holten sich die Forscher unter anderem von Glasschwämmen, die 5000 Meter unter dem Meeresspiegel leben. Diese Schwämme bestehen aus nadelförmigen Skelettelementen, die nur unter ganz bestimmten spezifischen Umweltbedingungen aufgebaut werden. „Diesen natürlichen Entstehungsprozess haben wir im Labor nachgeahmt“, berichtet der Naturwissenschaftler. Die dabei künstlich hergestellten  „Nadeln“ ähneln äußerlich ihren natürlichen Vorbildern. Sie seien denen gegenüber aber dreimal so robust. Entstanden sind so „Flexible Minerale“. Erstmals war es damit gelungen, Strukturen so nachzubilden, wie die Natur sie vorgegeben hat. Damit werde es nicht nur möglich, vom Baumeister Natur zu lernen, sondern auch neue Materialien zu schaffen. Hat sich Natalio bisher vor allem mit den verschiedenartigsten Schwämmen und Muscheln beschäftigt, will er künftig auch die Baupläne von Korallen und anderen mikroskopischen Meeresstieren erkunden. Möglich wurden die bisherigen Ergebnisse, so Natalio, weil Grenzen einzelner Wissenschaftsgebiete überschritten wurden. Biomimetik verlangt die Verknüpfung von Chemie, Mathematik, Physik und Biologie.

Das Thema ist zukunftsträchtig. Der Natur auf diese Weise nachempfundene Materialien sind fester und leichter als herkömmliche Werkstoffe. Anwendungsmöglichkeiten sieht Natalio im Automobil-, vor allem im Karosseriebau, in der Architektur und in der Medizin. So würden zum Beispiel Knochenimplantate und Gelenkprothesen aus auf biomimetischer Grundlage hergestellten Materialien nicht nur haltbarer, sondern auch deutlich leichter sein.

Das Echo auf den Beitrag im Science-Magazin war kräftig. Reaktionen seien aus vielen Ecken der Welt gekommen. Gemeldet hätten sich viele Wissenschaftler. Investoren waren leider nicht dabei. Deshalb ist Natalio viel unterwegs, um für das an der halleschen Universität neue Forschungsgebiet Kooperationspartner zu finden und Netzwerke zu knüpfen. Froh wäre er, wenn sich Investoren fänden, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse in praktische Anwendungen zu überführen, Auf Natalios Plan steht auch die Gründung eines Start-up-Unternehmens aus der Universität heraus.

Dort ist man sich bewusst, welche Chancen sich mit dem Biomimetiker und Science-Autor  ergeben. „Wir sind sehr froh, dass wir unsere Nachwuchsgruppen mit herausragenden jungen Wissenschaftlern besetzen konnten. Das Science-Paper von Filipe Natalio setzt einen Akzent“, sagt Prof. Dr. Ingrid Mertig, Sprecherin des MLU-Forschungsnetzwerkes ,Nanostrukturierte Materialien', zu dem die künftig achtköpfige Nachwuchsgruppe von Natalio gehört.

Welchen wirtschaftlichen Nutzen biomimetische Forschung haben können veranschaulicht Natalio an einem speziellen Lack, an dessen Entwicklung er im Zuge seiner Dissertation beteiligt war.  Dieser Lack verhindert, dass sich Algen und Bakterien zum Beispiel an Schiffsrümpfen ablagern. Algen bremsen nicht nur die Fahrt von Schiffen, es wird auch mehr Treibstoff verbraucht. Die Wissenschaftler waren darauf gestoßen, dass bestimmte Enzyme, die in Braun- und Rotalgen vorkommen, spezielle Verbindungen erzeugen, mit denen sich Algen vor mikrobakteriellem Befall oder Fraßfeinden schützen. Lacke mit nachgeahmten natürlichen Enzymen und sogenannten bakteriziden Nanopartikeln bewahren Schiffsrümpfe vor Ablagerungen von Algen und Bakterien. Damit könne ein Problem beseitigt werden, das in der Schifffahrt jährlich Verluste von über 200 Milliarden Doller verursacht, so Filipe Natalio im Juli des vergangenen Jahres in der Zeitschrift Nature Nanotechnology .  


Kontakt:
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Dr. Filipe Natalio
Leiter der Nachwuchsgruppe Bioanorganische  und Biomimetische Chemie Naturwissenschaftliche Fakultät II - Chemie, Physik und Mathematik
Institut für Chemie - Anorganische Chemie
Kurt-Mothes-Straße 2
06120 Halle (Saale)
Tel.: +49 345 5525622
E-Mail: Filipe.natalio.ignore@chemie.uni-halle.de
Web: www.chemie.uni-halle.de/bereiche_der_chemie/anorganische/aknatalio/
Web: www.lbbc-mlu.com

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