Wo Agfa und ORWO brillierten

Ein Kino soll unter den Hammer – keine große Sache. Wenn dieses Kino nicht exemplarisch für die Geschichte einer ganzen Region stünde. Für den Aufstieg und Niedergang eines der weltweit größten Filmhersteller und eines Ortes, der sich nach dem Krieg aufrappelte, um seinen guten Ruf als Filmstadt – immerhin wurde hier seit 1910 Kinofilm produziert – wieder aufzubauen. Vorhang auf für das Filmtheater Bitterfeld-Wolfen.   

Gong. Jeder Film beginnt mit diesem Gong, einem tiefen, vollen Ton, mit dem sich die Zuschauer erwartungsvoll in die gemütlichen Sitze kuscheln. Das Licht erlischt, der Vorhang weicht zurück. Die Bilder von "Schindlers Liste" erfüllen die Leinwand, und schon greift Birgit Sandler nach der Hand des jungen Mannes neben ihr... 19 Jahre später steht die Sachsen-Anhalterin wieder vor dem Filmtheater, das nun langsam von Büschen und Bäumen umzingelt wird. Trotzdem schmunzelt die 34-Jährige: "Hinterher hat er mich geküsst – mein allererster Kuss."

Das Filmtheater Bitterfeld-Wolfen steht zum Verkauf. Für kaum 50.000 Euro soll das denkmalgeschützte Gebäude den Besitzer wechseln. Eile ist geboten: Die Zeit nagt am Kino, auch wenn sich die Besitzer um den Erhalt der Bausubstanz kümmern. Wer das Geld investiert, kauft nicht nur ein Haus voller Erinnerungen. Sondern auch eines, das für die glanzvolle Geschichte einer Stadt steht, die sich selbst "Filmstadt" nannte. In Wolfen entstand der erste praktikable Farbfilm der Welt, entwickelt 1936 von der Agfa. Aus diesem Film- und Faserbetrieb wurde 1964 ORWO ("Original Wolfen"), eine weit über die Grenzen der DDR bekannte Marke.

Kinofilm-Material aus Wolfen hatte nach dem Krieg in ganz Deutschland und in Österreich Konjunktur. In Prag entstand "Die steinerne Blume", der erste auf Wolfener Film gedrehte abendfüllende Nachkriegsspielfilm, ausgezeichnet in Cannes für seine Farbqualität. In West-Berlin wurde 1950 das "Schwarzwaldmädel" gedreht, in den Filmstudios in Babelsberg produzierte die Defa "Das kalte Herz". Für die DDR war er 1950 der erste deutsche Nachkriegsfilm und erhielt in Karlovy Vary den Preis für den besten Farbfilm.

Bis die Agfa 1950 eine neue Filmfabrik in Leverkusen eröffnete, wurde im Prinzip jeder deutsche Kinofilm auf Wolfener Material gedreht. Was lag also näher, als für die Filmstädter ein Kino zu bauen, das die Brillanz des heimischen Produkts auf die sinnvollste – und dazu unterhaltsamste – mögliche Art präsentieren konnte? Man bedenke: Wolfen wuchs nach dem Krieg unaufhörlich. Und das fußte vor allem auf dem unbedingten Willen der Einwohner, die alte Identität als Filmstadt zurückzuerlangen. Es fehlten nicht nur die Patente und geheimen Rezepte für die Filmproduktion – darauf hatten es die amerikanischen Besatzer abgesehen –, sondern auch die Maschinen und zuletzt die Wissenschaftler, die mit ihren Familien in die UdSSR übersiedeln und die Technik dort wieder in Betrieb nehmen mussten.

Mühsam wurden die Produktionszweige der Filmfabrik wieder aufgebaut, Maschinen entwickelt und neue Kollektive gegründet. Doch schon 1954 brachte der VEB Filmfabrik Agfa ein Foto- und Kinofilmsortiment mit dem damals lichtempfindlichsten Farbfilm der Welt auf den Markt. Das Dorf Wolfen platze aus allen Nähten, es strebte das Stadtrecht an. Also baute die Filmfabrik 1957 ein Kino, das technisch und ästhetisch zu den Vorreitern in der DDR gehörte.

Das gewölbte Dach schwebt scheinbar über dem Kinosaal, im Foyer fließen weiße Säulen von der Decke herab. Auch wenn Staub die Tresen der Bar bedeckt und die Farbe im Vorraum abblättert: Die Kinoatmosphäre altert nicht. Bis Ende 2009 flimmerten hier Blockbuster und Liebhaberfilme über die Leinwand, dann war Schluss. Aus Wolfen war Bitterfeld-Wolfen geworden, die fünftgrößte Stadt Sachsen-Anhalts, aber ohne Kino. "Dabei brauchen die Menschen hier ein Kino, davon bin ich überzeugt", sagt Stefan Hermann, Leiter des Geschäftsbereiches Stadtentwicklung und Bauwesen der Kommune. Deshalb steht die Stadt einer Nutzung des Filmtheaters als Kino besonders offen gegenüber, wobei natürlich auch Alternativen diskutiert werden können.  

Wie vielfältig Kino sein kann, haben die früheren Betreiber gezeigt. Hier gab es nach der Wende Vorführungen alter Defa-Filme, Kinofeste mit Schauspielern "zum Anfassen", Valentinsabende mit erotischem Büfett, Dokumentationsreihen und Nachmittage für Schulklassen. Stefan Hermann sieht vor allem den Standort als erheblichen Vorteil: inmitten der Altstadt von Wolfen gelegen, mit stabilen Einwohnerzahlen. Auch das Maklerbüro des Filmtheaters, B+H Immobilien, bestätigt, dass die schmucken Einfamilien- und Reihenhäuser des Viertels gut verkauft werden. Und gerade drehen zwei Regisseurinnen zusammen mit Wolfener Gymnasiasten eine Dokumentation über das Kino. „Die Menschen vermissen das Kino", begründete einer der Schüler in der Mitteldeutschen Zeitung das Thema. "Wir wollen wissen, was man machen kann, damit hier wieder Filme zu sehen sind.“

Dem Filmtheater ist letztlich auf seiner Tafel, die einst die Filmtitel anzeigte, nur der Spruch geblieben: "Kino ist das Größte." Doch im Kleinen halten die Wolfener ihrer Filmtradition die Treue. Im Industrie- und Filmmuseum,  das die Geschichte von Agfa und Orwo aufarbeitet und erlebbar macht, werden oft Defa-Filme gezeigt. Meistens ist der Vorführraum dann gut gefüllt – doch um wie viel passender wäre es, wenn diese Filme im herrlichen Saal des Filmtheaters laufen könnten. Dort, wo der Gong ertönt und nicht nur an den ersten Kuss erinnert, sondern mit dem vielleicht schon bald neue Kino-Geschichten eingeläutet werden.


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