Intelligente Sohle im Diabetiker-Schuh soll Druckstellen vermeiden

Dr. Peter Gerth, Wissenschaftler im KAT-Kompetenzzentrum für Ingenieur-wissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe an der Hochschule Magdeburg-Stendal, hat seine Koffer für einen Flug nach Indien gepackt. Er ist dort zur Konferenz der Indischen Gesellschaft für Diabetes eingeladen. Bei dieser Gelegenheit trifft er sich mit Partnern aus dem EU-Forschungsprojekt „DiabSmart“.

Im internationalen Wissensaustausch entwickeln Industrieunternehmen und Forschungseinrichtungen ein neuartiges Diabetiker-Schuhwerk mit „intelligenter“ Sohle. Die Magdeburger Materialforscher bringen hier ihre Kompetenzen ein, die sie schon bei der Entwicklung eines Sportschuhs für ein großes Unternehmen unter Beweis stellten.

„Ich habe ein kleines Experiment vorbereitet“, sagt Dr. Peter Gerth, schiebt ein Gefäß in die Mitte des Tisches und taucht mit dem Finger in die weiße Flüssigkeit – mehrmals schnell hintereinander. Beim Rausziehen bildet die zähflüssige Masse einen langen weißen Tropfen. Gerth bezeichnet diese Eigenschaft als nicht-newtonsches Verhalten. Sprich: Die Flüssigkeit verhält sich anders als Wasser, das – wie vom Naturforscher Isaak Newton beschrieben – bei gleicher Temperatur ein immer gleiches Fließverhalten hat.

Eine Flüssigkeit, die je nach Druck ihre Viskosität, also das Maß ihrer Zähflüssigkeit verändert, könnte gute Dämpfungseigenschaften für eine „intelligente“ Sohle mitbringen, wie sie innerhalb des EU-Forschungsprojektes „DiabSmart“ für einen besonderen Schuh entwickelt werden soll – für den Diabetiker-Schuh.

Aber warum braucht ein Diabetiker einen besonderen Schuh und der wiederum eine intelligente Sohle?
Zum Glück, meint Peter Gerth, kenne er das Krankheitsbild der Diabetes nicht aus eigenem Erleben. Aber in Indien, wo er gerade war, gibt es die größte Zahl der Erkrankungen von weltweit derzeit 250 Millionen. In Deutschland sind aktuell elf Millionen Diabetiker gezählt, die Prognose ist steigend. Um die Dramatik dieser Krankheit zu verdeutlichen, verweist Gerth auf die Angaben der International Diabetes Federation (IDF), wonach weltweit etwa 85 Prozent aller Fuß- und Beinamputationen auf die Erkrankung an Diabetes zurückzuführen sind. „Die Hälfte davon könnte bei rechtzeitiger Versorgung mit entsprechendem Schuhwerk vermieden werden“, sagt der Wissenschaftler.

Gerth hat der besseren Anschauung wegen verschiedene Materialien ausgebreitet. Das Anfassen, das im wahren Wortsinne Begreifen ist ihm wichtig beim Forschen. „Man kann sich nicht immer sofort aus theoretischem Wissen heraus erschließen, wo bestimmte Eigenschaften der Stoffe herkommen“, sagt der praktisch veranlagte Wissenschaftler aus dem KAT-Kompetenzzentrum für Ingenieurwissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe an der Hochschule Magdeburg-Stendal. KAT steht für kompetente, für angewandte und transferorientierte Forschung.

Der herkömmliche Diabetiker-Schuh ist mit üblichem Schaumstoff ausgepolstert. Peter Gerth greift zum „Schwamm“. Dessen Nachteil: Auf ihm ist der Fuß zwar weich gebettet, findet aber keinen Halt, wenn er nicht durch eine extra Einlage stabilisiert wird. „Außerdem zeigt Schaumstoff nach gewisser Zeit Ermüdungserscheinungen“, weiß der Materialforscher. „Der Diabetiker würde aber gar nicht merken, dass seine Sohle nicht mehr dämpft“, sagt Gerth und erklärt, was auch ein medizinisches Thema der Tagung in Indien sein wird: „Diabetiker entwickeln bei langer Krankheitsdauer eine Schädigung von Nerven, die vom Körperzentrum entfernt liegen. Häufig beginnt die Störung an den Zehen und breitet sich strumpfförmig nach oben aus. Temperatur- und Schmerzempfindungen sind stark gestört, letztlich gar nicht mehr vorhanden. „Diabetiker laufen meist in zu engen Schuhen, um sie überhaupt zu spüren“, sagt Dr. Gerth und dass es im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit zu Fuß-Deformationen kommt, weil die geschädigten Nerven die Sehnen und Muskeln nicht mehr ausreichend versorgen.“

Es leuchtet ein, warum ein Diabetiker-Schuh eine intelligente Sohle braucht. Sie muss selbständig erkennen, wann und wo großer Druck ausgeübt wird – vor allem auf die meist gefährdeten Stellen unter der Ferse und dem Mittelfußknochen. Die intelligente Sohle muss diesen Druck abfangen. „Haben sich erst einmal Wunden gebildet, werden sie beim Diabetiker nicht mehr ausreichend mit entzündungsheilenden Stoffen versorgt“, sagt Gerth.

Neben dem Konzept einer mit Flüssigkeit gefüllten Sohle, wo die Dämpfung durch das Fließverhalten bestimmt wird, planen Gerth und seine Mitarbeiter die Erforschung noch anderer Stoffe, die ein starkes Dämpfungsverhalten haben und Schwingungen abschwächen.
„Da käme unter anderem der so genannte Memoryschaum infrage“, demonstriert Peter Gerth, wie der Schaum für den Moment die Druckstelle fest umschmiegt und dann in seine Ausgangsform zurückgeht.
„Letztlich wird es darum gehen, dass unser Partner in Spanien ein Material entwickelt, in dem sich die positiven Eigenschaften verschiedener von uns getesteter Materialen vereinen“, sagt Peter Gerth. Das spanische Unternehmen „Technofootbed“ hat weltweit einen Namen als Hersteller von Materialien zur Fußbettung. In diesem Fall gestützt auf die Prüfungsergebnisse der Magdeburger Materialforscher und auf die Laufanalysen der Staffordshire University in Großbritannien, eines weiteren engen Partners der Hochschule Magdeburg-Stendal. „Schon bei der Entwicklung des Sportschuhs war unsere Zusammenarbeit erfolgreich“, sagt Wissenschaftler Gerth.

Am Ende der vierjährigen Projektlaufzeit, eine klinische Studie inklusive, soll das Konzept für den kompletten Diabetiker-Schuh vorliegen. Dessen Passform in Kombination mit den geeigneten Materialen werde den Gang durch ein Diabetiker-Leben wesentlich erträglicher machen, zeigt sich der Magdeburger Wissenschaftler zuversichtlich.


Autorin:
Kathrain Graubaum

Kontakt:
Dr. Peter Gerth
Sprecher im KAT-Kompetenzzentrum
Ingenieurwissenschaften/Nachwachsende Rohstoffe
Breitscheidstraße 51
39114 Magdeburg
Tel.: +49 391 8864467
E-Mail: peter.gerth.ignore@hs-magdeburg.de
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