Utopien für eine Stadt im Wandel

In Dessau-Roßlau ist der „Summer of Pioneers“ gestartet

Dessau-Roßlau kann sich in diesem Jahr über einen Sommer freuen, der bis in den Dezember andauert. Denn so lange währt der „Summer of Pioneers“. Das Projekt zieht kreative Menschen in die Stadt, die hier für ein halbes Jahr auf Probe wohnen und arbeiten. Gemeinsam wollen sie Ideen verwirklichen, um Dessau-Roßlau für Zuzügler attraktiver zu machen.

Im ehemaligen Bürgerbüro in der Dessauer Innenstadt herrscht Gewusel. Auf einem Schild vor der Tür steht neuerdings „Coworking-Space“. Der ältere Herr, der gerade mit seinem Hund vorbei spaziert, kann sich darunter wenig vorstellen. Mit der Erklärung, der Begriff stehe für ein großes Büro, das sich Freiberufler, Unternehmensgründer oder Studenten teilen können, gibt er sich zufrieden. „Schreibt doch ,Büro für alle’ dran! Dann versteht man’s!“

Ob die Leute drinnen im Coworking-Space, die gerade ihren ersten gemeinsamen Workshop erleben, dieselbe Sprache sprechen wie die Dessau-Roßlauer, wird sich in den nächsten sechs Monaten zeigen. Denn so lange wollen manche der 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hierbleiben, andere kommen nur für ein paar Wochen. Sie leben in Berlin, Potsdam, Köln, Münster oder Oldenburg und haben beschlossen, ein Experiment zu wagen: Sie sind Dessauer auf Probe. Als Teilnehmer des Projekts „Summer of Pioneers“, das es schon an sieben Standorten gab, aber nun erstmals in Sachsen-Anhalt zu Hause ist, nennen sie sich selbst Pioniere. Der Begriff ist als „Wegbereiter“ zu verstehen und soll keineswegs an Schulappelle mit roten Halstüchern erinnern. Um die Vergangenheit geht es hier ohnehin nicht. Die Pioniere sind gekommen, um Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Und die braucht Dessau-Roßlau dringend.

Willkommenskultur schaffen

Etwa 2.000 Wohnungen stehen leer, die Bevölkerungszahl geht stetig zurück, der Altersdurchschnitt steigt. Die Studenten nennen die Stadt scherzhaft „Depressau“. Dabei dürfte es Dessau nicht an Selbstbewusstsein und positiver Energie mangeln. Schließlich steht der Name synonym für das Bauhaus, für die Wiege der Klassischen Moderne, für wegweisende Innovationen in Städtebau und Architektur. Das hat Strahlkraft, was mehr als 225.000 touristische und geschäftliche Übernachtungen im zurückliegenden Jahr zeigen. Wenn 2025 das Jubiläum „100 Jahre Bauhaus in Dessau“ gefeiert wird, dürfte es nochmal einen Anstieg geben.

Der Tourismus also ist nicht das Problem. Vielmehr geht es darum, für die Menschen, die hier leben, Angebote zu machen, eine lebenswerte Stadt zu gestalten und Zuzügler zu gewinnen. „Wir sehen in dem Projekt ,Summer of Pioneers’ die Chance, eine Willkommenskultur zu schaffen und Ideen für eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung zu generieren“, sagt Kathrin Hinze, die bei der Stadtverwaltung angestellt ist und sich als Koordinatorin „Engagierte Stadt“ auch um das aktuelle Projekt kümmert.

Finanziert wird es hauptsächlich aus Fördermitteln des Landesministeriums für Digitalisierung und Infrastruktur. Die Stadt beteiligt sich, und die Wohnungsgenossenschaft eG Dessau stellt den Pionieren für die Dauer des Projekts Wohnraum zur Verfügung. „Wir möchten Menschen ansprechen, die mit dem Gedanken spielen, der Großstadt den Rücken zuzukehren“, sagt Kathrin Hinze. „Vielleicht kann sich der ein oder andere vorstellen, hier seinen neuen Lebensmittelpunkt zu finden. Neue Arbeitsformen wie ortsunabhängiges digitales Arbeiten machen dies möglich.“

Genau das ist das Konzept des „Summer of Pioneers“. Ausgedacht hat es sich Frederik Fischer, der Gründer von Neulandia, der – in Berlin lebend – mit seinem Team verschiedene Initiativen angekurbelt hat, bei denen es darum geht, die Sehnsucht der Großstädter nach anderen Lebensformen mit den Möglichkeiten des ländlichen Raums zu verknüpfen. Weil in der Stadt Wohnraum immer knapper und teuerer wird, entwickelt Neulandia auf dem Land zum Beispiel so genannte KoDörfer. Sie bestehen aus kleinen, ökologisch gebauten Holzhäusern und großen Gemeinschaftsflächen und sind als Genossenschaftsprojekte konzipiert.

Probewohnen für Digitalarbeiter

Gerade wird eines dieser KoDörfer in Wiesenburg/Mark in Brandenburg gebaut, unweit der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt. Dass er dorthin ziehen wird, steht für den derzeit noch in Berlin lebenden Don Ludwig bereits fest. Trotzdem ist er jetzt Pionier in Dessau-Roßlau. „Ich habe ein Herz für kleinere Städte. Da geht viel mehr, man kann Ideen viel schneller und unkomplizierter umsetzen. Außerdem bin ich Bauhaus-Fan“, erklärt er seine Entscheidung, sich am Experiment zu beteiligen. Er habe ein gutes Gefühl für dessen Gelingen: „Wir machen das ja alle ehrenamtlich. Wo es engagierte Menschen gibt, kann nicht viel schiefgehen.“ Der 47-Jährige ist das, was man einen „Digitalarbeiter“ nennt: Als freiberuflicher UX/UI-Designer für nachhaltige und gemeinwohlorientierte Organisationen arbeitet er bislang fast ausschließlich im Homeoffice.

Auch für Joe Stahls Job spielt der Arbeitsort keine Rolle: Er ist im Kundenservice einer Firma beschäftigt, die eine Lernsoftware für Schulen entwickelt hat. Aus Süddeutschland stammend, hat er viele Jahre in Berlin gelebt, bevor er in ein Ökodorf nach Niedersachsen zog – und von dort nun eben nach Dessau. „Ich habe eine Sympathie für den Osten, die ich nicht erklären kann, aber deutlich spüre“, erläutert der 33-Jährige seine Motivation, nach Sachsen-Anhalt zu kommen. Im Vergleich zu Berlin sei Dessau ruhiger und sauberer, habe er in den ersten Tagen festgestellt. „Man lebt weniger anonym und begegnet eher älteren Menschen auf der Straße als jungen.“ Er ist neugierig darauf, wie die Pioniere als Gruppe funktionieren werden. „Das wird spannend. Ich glaube, manche sind eher fürs Machen, andere brauchen vorab viel Zeit fürs Planen und Diskutieren.“

Drinnen im Coworking-Space geht es zum Projektstart erstmal ums Fantasieren. Im Raum steht die Frage, wie Dessau-Roßlau in einer optimalen Welt im Jahr 2035 aussehen könnte. Die Teilnehmer sind aufgefordert, Utopien zu entwerfen und auf einem Stadtplan jede noch so kuriose Idee zu vermerken. Sie reichen einander Scheren und Klebestifte, schneiden Bilder aus Magazinen aus und streuen Glitzer auf die Bummelmeile. Binnen Minuten eröffnen Spielplätze, kleine Läden, Cafés, Clubs, in den man barfuß tanzt, Ateliers für Künstler, ein Flussbad an der Mulde. Dächer und Flächen werden begrünt, Fassaden mit Gemälden verschönert, Rastplätze für Fahrradfahrer an der Elbe eingerichtet und eine App programmiert, die alle Veranstaltungen bündelt. „Bessau-Lieblau“ oder „Desstopia“ nennen sie ihre imaginäre Stadt.

Leerstand schafft Raum für Ideen

Diese spielerische Herangehensweise ist genau das, was die Stadt braucht, und das, was hier richtig Spaß macht, findet der Wahl-Dessauer Joerg Schnurre. „Der Leerstand ist in meinen Augen kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Die Stadt ist optimal für Kreative. Hier gibt’s Freiraum. Es ist ein Spielplatz für Erwachsene.“

Joerg Schnurre ist in einem Dorf bei Köthen aufgewachsen, hat in Berlin, Düsseldorf und Mühlheim an der Ruhr gelebt, bevor es ihn zurück nach Sachsen-Anhalt zog. Der diplomierte Sozialwissenschaftler, Start-up-Gründer und Büromanager eines FDP-Landtagsabgeordneten, der vorher bei der Stadtverwaltung angestellt war, gab den Anstoß dafür, dass sich Dessau-Roßlau als Standort für den „Summer of Pioneers“ beworben hat. „Wir brauchen Menschen, die hierher ziehen“, sagt er. „Es gibt zu viel Fläche für zu wenig Einwohner. In den Großstädten ist das andersrum.“ Die Vorteile des Lebens in der überschaubaren Stadt – Dessau-Roßlau hat derzeit etwas weniger als 80.000 Einwohner – liegen für ihn auf der Hand. „Hier herrscht ein anderer Charme, keine große Aufgeregtheit. In fünf Minuten bist du mit dem Fahrrad in der Natur. Junge Familien finden alles, was sie brauchen: Kita-Plätze, Schulen, eine Gesundheitsversorgung, die besser funktioniert als anderswo.“

Die Argumente klingen überzeugend. Doch werden einige der Pioniere tatsächlich auf Dauer bleiben? Frederik Fischer hält das für wahrscheinlich: „An anderen Projektstandorten hat das geklappt. In Wittenberge, wo der ,Summer of Pioneers’ vor fünf Jahren stattfand, sind 18 von 27 Pionieren geblieben.“ Auch in Mittweida in Sachsen, wo zwar keiner der Teilnehmer dauerhaft hingezogen ist, habe man es geschafft, Spuren zu hinterlassen. „Dort führen Bürgerinnen und Bürger nahezu alle Ideen fort. Es gibt zum Beispiel einen Stadtgarten in einer Baulücke und ein Sommerkino.“

Probewohnen für Digitalarbeiter

In Dessau-Roßlau sind die Pioniere nicht die ersten, die sich Gedanken darüber machen, wie man mehr Leben in die Straßen bringen könnte. Auch das Forschungsprojekt „Junge Stadtmacher:innen“ sucht derzeit nach Antworten. Initiiert wurde es von den Fachbereichen Architektur und Design der Hochschule Anhalt, gefördert aus dem Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“. So haben einige Studierende ihre Ideen zur Belebung der Haupteinkaufsstraßen bereits in einem „Atlas der Möglichkeiten“ zusammengetragen. „Das, was es schon gibt, zu vernetzen, wird ein Teil unserer Aufgabe sein“, sagt Pionier Heiko Gerdes, der Architektur und Stadtplanung studiert hat. „Unsere Stärke sehe ich darin, dass wir mit dem Blick von außen kommen und sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen einbringen. Eventuelle Hürden, die sich uns in den Weg stellen könnten, kennen wir noch nicht. Deshalb planen wir erstmal ungebremst.“

Am späten Nachmittag des ersten Workshop-Tages haben die Pioniere konkrete Vorhaben formuliert, berichtet er. „Um mit den Einwohnern ins Gespräch zu kommen, wollen wir sie regelmäßig an eine lange Tafel einladen. Vielleicht bauen wir auch eine temporäre Strand- oder Cocktailbar an der Mulde auf“, sagt Gerdes. In seinen Sätzen schwingen Vorfreude und Euphorie mit. Er selbst ist dem speziellen Charme der Stadt längst erlegen, gibt er zu. In Berlin lebend, pendelt er seit Jahren einmal wöchentlich mit dem Zug nach Dessau-Roßlau, um als Guide durch Bauhausstätten zu führen. Auf die Frage, ob sich das denn lohne, sagt er lachend: „Finanziell nicht, aber ich liebe diese Stadt!“ Wortlos zeigt er auf seine Wade. Dort hat er sechs Buchstaben tätowieren lassen: DESSAU.

 

Autorin: Dana Toschner

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