Dessau-Roßlau: Aufbruch einer unterschätzten Stadt
Kann ein Nachteil plötzlich zum Vorteil werden? Ein Makel zum Pluspunkt? In Dessau-Roßlau passiert das gerade: Menschen aus Großstädten wie Berlin oder Leipzig sehen im extrem hohen Leerstand an Wohn- und Gewerberäumen vor allem Chancen und Gestaltungsspielräume, die sie nutzen möchten. Die Initiatoren des Projekts "Summer of Pioneers" haben Dessau-Roßlau ins Herz geschlossen und noch Einiges vor. Ein kleines Fazit nach einem guten halben Jahr in einer Stadt, in der Vieles möglich ist.
„Kreative, kommt nach Dessau!“, ruft Frederik Fischer in die Welt, indem er diesen Satz auf der Plattform LinkedIn postet. Gerichtet ist der Aufruf hauptsächlich an Berlinerinnen und Berliner. Dabei geht es Frederik Fischer nicht nur um einen Wochenendausflug auf den Spuren des Bauhauses, sondern um die Idee, Zuzügler für Dessau zu gewinnen, die dauerhaft bleiben.
Doch warum sollte jemand von Berlin ausgerechnet nach Dessau ziehen? Ist das nicht absurd? Frederik Fischer schüttelt den Kopf. Der 43-Jährige, der mit seiner Firma Neulandia neue Formen des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens konzipiert, ist sozusagen von Berufs wegen Visionär. Mit anderen Worten: Er hinterfragt etablierte Denkweisen und erkennt Möglichkeiten, die für andere noch nicht sichtbar sind. Für den Umzug nach Dessau hat er handfeste Argumente: Etwa 2000 Wohnungen stehen leer, die Mieten sind vergleichsweise niedrig und die Zuganbindungen nach Berlin und Leipzig unkompliziert. „Hier gibt’s mit dem Bauhaus und dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich gleich zwei UNESCO-Welterbestätten, eine Hochschule, ein volles Kulturprogramm und trotz des hohen Altersdurchschnitts der Bevölkerung überraschend viele kreative junge Initiativen“, ergänzt er.
Seit Sommer 2024 ist Frederik Fischer Dessau-Fan – da nämlich startete sein Projekt „Summer of Pioneers“ in der sachsen-anhaltischen Stadt, das nun zu Ende geht. Elf Menschen haben ihr Zuhause verlassen, um ein halbes Jahr auf Probe in Dessau zu leben und sich Gedanken darüber zu machen, was die Stadt braucht, um für Zuzügler attraktiver zu werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Hauptstadt – aber auch aus Potsdam, Köln, Wilhelmshaven oder Münster – haben sich auf ein Experiment eingelassen, das über die Stadtgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit sorgt. Sie nennen sich Pioniere, wobei der Begriff als „Wegbereiter“ zu verstehen ist, und keineswegs an DDR-Zeiten erinnern soll.
Im Leerstand steckt Potenzial
Einer der Dessauer Pioniere ist Joe Stahl. Der 33-Jährige ist Digitalarbeiter, wie die meisten anderen in der bunt zusammengewürfelten Truppe. „Ich bin im Kundenservice einer Firma beschäftigt, die eine Lernsoftware für Schulen entwickelt hat. Meinem Arbeitgeber ist es egal, an welchem Ort der Welt ich meinen Laptop aufklappe. Das gibt mir die Freiheit, immer wieder neu zu entscheiden, wo und wie ich leben will.“ Sich langfristig festzulegen, liege ihm nicht. „Ich mag es, Menschen kennenzulernen und will unbedingt vermeiden, mein Leben in ein und derselben Bubble zu verbringen.“
Er stammt aus Süddeutschland, hat lange in Berlin gelebt, bevor er in ein Ökodorf nach Niedersachsen zog und von dort vor einem halben Jahr nach Dessau kam – eine Erfahrung, die er nicht missen möchte. „Ich habe mich in die Stadt nicht verliebt. Das zu behaupten, wäre übertrieben. Aber ich mag vieles hier. Sachsen-Anhalt ist ein Bundesland, in dem ich mich sofort wohl gefühlt habe. Ich will hier unbedingt noch mehr kennenlernen, Magdeburg und Lutherstadt Wittenberg zum Beispiel“, sagt Joe Stahl.
Ideen zu entwickeln, die Dessau voranbringen, stellte sich für ihn und die anderen Pioniere als gar nicht so einfach heraus. „Bislang gab es den ,Summer of Pioneers‘ nur in deutlich kleineren Städten. Da ist es leichter, mit Initiativen und Veranstaltungen wahrgenommen zu werden. Wir brauchten dafür in Dessau eine längere Anlaufzeit und Geduld. Ich hatte das Gefühl, jetzt am Ende ging’s erst richtig los.“
Das empfindet die Pionierin Lisa Vogt, die sich beruflich mit Stadtentwicklung beschäftigt, ähnlich. „Mein Ziel war es, ein leerstehendes Objekt zu bespielen, um auf einen konkreten Raum in Dessau und dessen Potenzial aufmerksam zu machen. Auf diese Weise kann man zeigen, welche Möglichkeiten das Objekt als Ort der Begegnung oder Kultur bieten kann. Das ist uns im Dezember geglückt. Ein toller Abschluss des Projekts!“, sagt sie. Der AWO-Kreisverband Dessau-Roßlau e.V. hatte den Pionieren eine leerstehende Wohnung in der Mariannenstraße zur Verfügung gestellt. Organisiert wurden unter dem Titel #VollMarianne zwei Mini-Festivals für junge Leute mit einem Mix aus Kunst, Yoga, Techno und Rave.
Dessau-Roßlaus Juwelen entdecken
Schon in den Vormonaten hatten die Pioniere Einiges auf die Beine gestellt: Sie bauten eine lange Tafel auf, um mit Akteuren aus Kultur, Wirtschaft und Stadtverwaltung ins Gespräch zu kommen. Sie riefen das „Café International“ ins Leben, einen offenen Treff für Zugewanderte und Einheimische, und entwickelten einen Online-Veranstaltungskalender, der die vielfältigen Angebote bündeln soll.
Wie reich das kulturelle Leben in der Stadt ist, überraschte die Pioniere. „Für mich war Dessau ein unbeschriebenes Blatt. Ich hätte nicht erwartet, dass es hier so viele Vereine, Initiativen, Künstlerinnen und Künstler gibt, die sich engagieren“, sagt Lisa Vogt. „Ich habe das Gefühl, Dessau erwacht gerade ganz langsam aus einem Dornröschenschlaf. Hier ist ein Umbruch sichtbar.“ Sie selbst habe die Stadt von Anfang an als spannend erlebt und den „Summer of Pioneers“ als bereichernde Erfahrung. „Ich habe für sechs Monate meine gewohnte Umgebung verlassen, sozusagen die Komfortzone. Meine Heimat Münster hat eher ein Heile-Welt-Flair, Dessaus Charme erlebe ich auf andere Weise. Je länger man bleibt, umso mehr Juwelen entdeckt man hier.“
Solche Beschreibungen freuen Dr. Robert Reck, den Oberbürgermeister von Dessau-Roßlau. Er hört oft, dass Menschen die Stadt nicht unbedingt auf den ersten Blick ins Herz schließen. „Aber wenn sie länger hier leben, wissen sie die Stärken durchaus zu schätzen. Wir haben 80.000 Einwohner, eine gewisse großstädtische Infrastruktur, aber trotzdem eine heimelige Atmosphäre“, beschreibt Robert Reck. „Als Stadt können wir Einiges in die Waagschale werfen, etwa das Bauhaus, das Umweltbundesamt, die Hochschule oder das Klinikum. Wer nach Alternativen zur Großstadt sucht, hat uns wahrscheinlich nicht sofort auf dem Schirm. Ich finde es gut, dass das Projekt ,Summer of Pioneers’ genau da ansetzt. Es hat uns positive, frische Impulse gebracht und neben den Ideen und Aktionen der Pioniere auch mediale Aufmerksamkeit.“
KoQuartier will Neustart erleichtern
Finanziert wurde es hauptsächlich aus Fördermitteln des Landesministeriums für Digitalisierung und Infrastruktur. Auch die Stadt hat sich beteiligt, und die Wohnungsgenossenschaft eG Dessau stellte den Pionieren für die Dauer des Projekts Wohnraum zur Verfügung. Zusätzlich sponserte die Sparda-Bank Berlin 10.000 Euro.
„Wir haben unglaublich viel Unterstützung erlebt“, sagt Frederik Fischer. Auch deshalb würde er das, was im vergangenen halben Jahr in Bewegung gesetzt wurde, gern weiterführen. Zumal sich einige der Pioniere gut vorstellen können, länger in Dessau zu bleiben. Das Konzept für das Anschlussprojekt steht: „Wir nennen es KoQuartier. Die Idee ist, eine niedrigschwellige Annäherung an Dessau zu ermöglichen“, so Frederik Fischer. „Erst trifft man sich online, dann gibt es Führungen vor Ort, im nächsten Schritt einen mehrtägigen Aufenthalt. Und letztendlich wollen wir den Umzug und das Einleben unterstützen.“
Einer, der definitiv bleiben wird, ist der Architekt Heiko Gerdes. Seine Liebe zu Dessau hat er in den vergangenen Wochen in sogenannten Meetups, also virtuellen Treffen, geteilt. Teilgenommen haben Menschen aus ganz Deutschland, die darüber nachdenken, in einer anderen Stadt einen Neustart zu wagen. Manche sind es leid, die hohen Mieten in den Metropolen zu zahlen, andere haben einfach Lust, sich neu zu orientieren. Heiko Gerdes wird nicht müde, seine Lieblingsstadt vorzustellen, er weckt die Neugier, erklärt die Idee des KoQuartiers und zeigt auch gleich eine Auswahl leerstehender Wohnungen.
Eine Stadt wie eine leere Leinwand
Dann lädt er vor Ort zum Stadtspaziergang ein. An einem grauen, kalten Samstag im Dezember sind 22 Menschen gekommen, um sich Dessau anzusehen. Sie leben in Berlin, Leipzig, Nürnberg oder Würzburg und suchen Inspiration für den kommenden Lebensabschnitt. Die meisten sammeln erstmal unverbindlich Eindrücke, während eine junge Frau bei diesem Spaziergang ihren Plan konkretisiert: Inga Strauch lebt seit sieben Jahren in Leipzig und will sich demnächst in Dessau nach einer Wohnung umsehen. In Leipzig etwas zu finden, sei angesichts der Mietpreise schwierig, erzählt sie. „Leipzig ist toll, aber auch wuselig und zunehmend eng. Die Stadt ist fertig, hier in Dessau gibt es dagegen noch so viel Gestaltungsspielraum. Dessau ist für mich wie eine leere Leinwand. Ich komme hier sofort auf Ideen und treffe Menschen, die Lust auf Experimente haben. Es gibt so viele Puzzleteile, an die ich anknüpfen könnte.“
Solch ein Puzzleteil möchte das KoQuartier sein. „Wir haben das in den vergangenen Wochen erfolgreich getestet“, sagt Frederik Fischer. Knackpunkt für das Vorhaben ist derzeit die noch unsichere Finanzierung. „Auch wir würden gern auf das bisherige Projekt aufbauen, weil ein längerer Zeitraum vorteilhaft ist, wenn sich eine solche Initiative verstätigen soll. Wir schauen aktuell, welche Finanzierungs- oder Förderinstrumente es gibt“, sagt Oberbürgermeister Dr. Robert Reck.
Frederik Fischer bleibt hoffnungsvoll. Etwas anderes würde auch kaum zu seinem visionären Wesen passen. „Nur wo Zuversicht ist, wird Veränderung möglich“, sagt er. „Wir konnten die Aufbruchstimmung in den vergangenen Wochen deutlich spüren. Einen Satz habe ich oft gehört, der es sehr gut auf den Punkt bringt: Dessau heute ist wie Berlin in den Neunzigern.“
Autorin: Dana Toschner
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