„Das Macher-Gen eint uns“

In Sachsen-Anhalt dauert der Sommer in diesem Jahr länger: Das Projekt „Summer of Pioneers“ führt elf experimentierfreudige Menschen nach Dessau-Roßlau, die dort ein halbes Jahr auf Probe wohnen. Gemeinsam entwickeln sie Zukunftsvisionen für die schrumpfende Stadt. Eine Zwischenbilanz zur Halbzeit.

„Zweimal gelbe Säcke bitte!“ Dieser Satz ist im Coworking-Space im Dessauer Stadtzentrum ein Running Gag. In dem Raum, den die Stadtverwaltung dem Projekt "Summer of Pioneers" zum gemeinsamen Arbeiten zur Verfügung gestellt hat, war lange das Bürgerbüro untergebracht. Es im Frühling umgezogen, im Juli zogen die elf Pioniere ein. Sie interessieren sich nicht für gelbe Säcke, sondern eher für gelbe Notizzettel. Unzählige davon kleben auf großen Stellwänden: die Ideensammlung, um das Leben in Dessau-Roßlau attraktiver zu gestalten – bestenfalls so, dass man Menschen aus Großstädten wie Berlin oder Leipzig dafür gewinnen kann, hierher zu ziehen.

Die nämlich bräuchte Dessau. Die Stadt hatte in den 1980er Jahren mehr als 100.000 Einwohner, heute sind es nicht mal mehr 80.000, wobei die Roßlauer schon mitgezählt sind. Die beiden Städte hatte man 2007 zusammengeschlossen. Folgt man den Prognosen, setzt sich das dramatische Schrumpfen in den nächsten Jahren fort.

Dass die Stadt schon jetzt zu groß ist für die Menschen, die hier noch leben, spürt und sieht jeder, der durch Dessau spaziert. Etwa 2.000 Wohnungen stehen leer. Selbst im Zentrum, in bester Lage, nur wenige Schritte von Marktplatz und Rathaus-Center entfernt, sind die Plattenbauten leergezogen. Wie tote Augen erscheinen die gardinenlosen Fenster.

Die „Platte“ nicht abreißen

Dass dort noch einmal Leben einzieht, Familien sich hinter diesen Fenstern wieder lieben, streiten und versöhnen und die Wohnblöcke nicht einfach abgerissen werden, wünschen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „Summer of Pioneers“ – und das nicht nur aus Gründen der Nachhaltigkeit. Sie sind überzeugt, dass im Leerstand Potenzial steckt, das man nur erkennen und nutzen müsse. „Dessau bietet neben günstigen Wohnungen genügend Platz, um sich zu verwirklichen. Man kann sich zum Beispiel ein Atelier oder eine Werkstatt einrichten. Es ist so viel möglich“, schwärmt Heiko Gerdes. Er ist Architekt, Bauhaus-Fan und pendelt seit einigen Jahren zwischen Berlin und Dessau, weil er in beiden Städten arbeitet. Als Community-Manager hält er seit Juli die Fäden beim „Summer of Pioneers“ in Dessau zusammen, ist Ansprechpartner für organisatorische Fragen.

In seinem Berliner Umfeld hört er immer wieder, dass Menschen der Großstadt überdrüssig werden. „Die Mieten sind in den vergangenen Jahren extrem gestiegen, überall ist es laut und voll. Es ist schwierig, Arzttermine zu bekommen oder einen Platz in der Kita. Ich kann nachvollziehen, dass Eltern lieber auf einen Spielplatz gehen möchten, auf dem sie nicht Gefahr laufen, dass ihr Kind die Spritze eines Junkies in der Hand hält“, sagt er.

Wie kann man jene Sehnsucht der Großstädter nach anderen Lebensformen zusammenbringen mit den Möglichkeiten, die der ländliche Raum bietet? Diese Frage beschäftigt Frederik Fischer, den Gründer von Neulandia. Er entwickelt Konzepte für gemeinschaftliche Wohnprojekte auf dem Land und ist der Initiator des „Summer of Pioneers“. Die Idee: Menschen, die digital arbeiten, also nicht an einen Ort gebunden sind, wohnen sechs Monate anderswo auf Probe. Sie testen das Leben fernab der Metropolen und entwickeln ehrenamtlich Ideen, um die Gastgeber-Kommune zukunftsfähig zu gestalten.

Im Gegenzug stellen die Städte den Pionieren für die Dauer des Projekts Wohnraum zur Verfügung. In Dessau-Roßlau macht das die Wohnungs-genossenschaft eG Dessau. Die übrige Finanzierung erfolgt aus Fördermitteln des Landesministeriums für Digitalisierung und Infrastruktur. Auch die Stadt beteiligt sich, und die Sparda-Bank ist Sponsor der Initiative.

Große Stadt braucht große Ideen

Mit seinem Team hat Frederik Fischer den „Summer of Pioneers“ bereits in einigen Kleinstädten umgesetzt, unter anderem im brandenburgischen Wittenberge und im sächsischen Mittweida. In einer vergleichsweise großen Stadt wie Dessau ist der „Summer of Pioneers“ erstmals zu Gast. Die Pioniere spüren nach drei Monaten, dass das durchaus Hürden mit sich bringt. „Wenn man in einer kleinen Stadt, in der sonst wenig los ist, plötzlich ein Open-Air-Kino veranstaltet, kommen sofort hundert Leute. Das spricht sich herum. Aber so einfach funktioniert das hier in Dessau nicht“, sagt Heiko Gerdes.

Ihm pflichtet Joe Stahl, Software-Entwickler und Pionier, bei: „Ich sehe hier viel Potenzial und fühle mich wohl, aber ich habe Zweifel, dass unsere Ideen fruchten. Ich befürchte, vieles verpufft. Wir sind zu klein, zu wenig Menschen, um wirklich etwas bewirken zu können. Es braucht größere, radikalere Ideen, damit man in Dessau eine Veränderung wahrnimmt.“ Sein Wunsch: Man lässt 50 oder 100 Familien für fünf Jahre gratis in der Stadt leben. „Die Dessauer würden von dem profitieren, was sie hier an Neuem einbringen. Vielleicht würde auch das ein oder andere Start-up gegründet.“

Frischen Wind bringen nun aber erstmal die elf Pioniere mit, die in Berlin, Potsdam, Köln, Münster, Wilhelmshaven oder im kleinen Bad Belzig leben. Nach dem Projektstart haben sie sich angeschaut, welche Initiativen es vor Ort bereits gibt. Studierende der Hochschule Anhalt haben zum Beispiel in der Vergangenheit Ideen zusammengetragen, um die Haupteinkaufsstraßen zu beleben. Später definierten die Pioniere die Felder, die sie anpacken wollen: „Leerstand, Begegnung und Digitalisierung“, zählt Projektteilnehmerin Heike Sinn auf. Sie findet neben der inhaltlichen Ebene das Zusammenarbeiten in der Gruppe spannend. „Einer will sofort loslegen, der andere geht verkopft ran, plant und durchdenkt erstmal. Aber das Macher-Gen eint uns alle.“

In den ersten drei Monaten haben sie dank dieses Macher-Gens schon einiges umgesetzt: An einer langen Tafel trafen sich die Pioniere zunächst zum Gedankenaustausch mit Akteuren aus Kultur und Wirtschaft, dann mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung. Bis zum Jahresende wollen sie nun alle zwei Wochen zum „Café International“ einladen, einem offenen Treff für Zugewanderte und Einheimische.

Um all das, was sonst noch kulturell in der Stadt passiert, auf einer Plattform zu bündeln, hat Ruben Heppner, Stadt- und Regionalmanager, Programmierer und Pionier, den Online-Veranstaltungskalender dessau-magazin.de erstellt. Er setzt auf Eigeninitiative: Die Veranstalter tragen ihre Events selbst ein. Ob sich solch ein Online-Angebot etablieren wird in einer Stadt, in der das Durchschnittsalter bei 50,1 Jahren liegt? „Wir können zusätzlich Plakate ausdrucken“, sagt Heppner. „Vielleicht funktioniert eine Kombination aus beidem.“

Das Leben in Dessau bunter zu machen, sehen die Projektteilnehmer nicht nur im übertragenen Sinn als ihre Aufgabe, sondern gehen das Ziel auch ganz wortwörtlich an: Die Designerin Kirsten Ellerau hat ein Bommel-Fieber entfacht. Hunderte von farbigen Woll-Bommeln wurden schon von den Pionieren, jungen und älteren Dessauern gemeinsam gebastelt und sollen nun an verschiedenen Orten aufgehängt werden, um für gute Laune zu sorgen.

Vom Leerstand zum Zukunftsort

Heiko Gerdes braucht keine Bommeln, er lächelt auch ohne gern und viel. Mit seiner Liebe zum Bauhaus, seiner Sympathie für Dessau und der Gabe, andere zu begeistern, ist der 38-Jährige wahrscheinlich die Idealbesetzung, um Menschen aus Berlin oder Leipzig zu zeigen, was die Stadt zu bieten hat. In regelmäßigen Online-Meetups stellt er „sein“ Dessau vor, beantwortet Fragen und zeigt eine Auswahl leerstehender Wohnungen. Wer neugierig geworden ist, meldet sich für eine seiner thematischen Stadtführungen an, in denen neben den touristischen Highlights auch die Subkultur und das queere Dessau ihren Platz haben.

Zu ungenutzten Immobilien im Zentrum der Stadt führt er bei sogenannten Leerstand-Safaris. Von der Schade-Brauerei geht’s zum Kristallpalast – einst Vergnügungsort, an dem man tanzte und Theater spielte, heute ein heruntergekommener „Lost Place“. Doch Heiko Gerdes zeigt nicht nur den Verfall, er sieht vielerorts, was daraus werden könnte. Eine Markthalle im Kristallpalast? Wohnungen in der leerstehenden Schule am Rathaus? Ein Fußballplatz auf dem Dach des Dessau-Centers?

Was in der Stadt tatsächlich funktionieren könnte, ob und wofür man finanzkräftige Investoren gewinnt, wird die Zukunft zeigen. Die Pioniere um Heiko Gerdes glauben daran, dass kleine und große Ideen die Welt verändern können. „Wir wollen Teil der Lösung sein und nicht Teil des Problems“, bringt Frederik Fischer die Motivation auf den Punkt. „Wir müssen gemeinsam eine lebenswerte Zukunft gestalten, oder wir werden in einer Zukunft aufwachen, die für die Mehrheit in diesem Land nicht lebenswert ist.“

Autorin: Dana Toschner

 

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