Antibiotika aus Algen: Neues Forschungszentrum arbeitet an innovativen Therapeutika

Pharmazie, Kosmetik, Ernährung, Landwirtschaft: in vielen Bereichen wird derzeit nach Alternativen zu chemischen Anwendungen gesucht. Vielversprechend erscheinen dabei die Fähigkeiten von Algen. Ob sich diese uralten Organismen auch als Quelle für neue Antibiotika eignen, erforschen jetzt verstärkt Wissenschaftler von Hochschule Anhalt und Fraunhofer gemeinsam: im neuen Zentrum für Naturstoff-basierte Therapeutika in Köthen.

"Wir nutzen die Expertise der Hochschule vom Aufschluss bis zur Herstellung eines Extrakts aus Algen und bringen unsere Erfahrung aus der Wirkstoff-Entwicklung ein", erklärt Dr. Stephan Schilling vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie Halle (IZI) grob die Aufgabenverteilung. Stephan Schilling kennt die Gründerin und Leiterin der Algenbiotechnologie an der Hochschule Anhalt, Prof. Carola Griehl, schon aus früheren Kooperationen. Eines ihrer Forschungsprojekte für einen Alzheimer-Wirkstoff führte sie zu einem speziellen Ansatz, um Antibiotika aus Algen zu gewinnen.

Algen zur Hemmung von Amyloid-Plaques

Mit Partnern des Leibniz-Instituts für Pflanzenbiochemie (IPB) Halle hatten sie nachgewiesen, dass die von bestimmten Mikroalgen gebildeten Sulfolipide das Enzym Glutaminylcyclase QC hemmen. Dieses wird verstärkt im Gehirn von Alzheimer-Patienten gebildet. Die Wirkstoffe aus der Alge stören die Signalübertragung, welche den Prozess zur Ablagerung von sogenannten amyloiden Plaques im Hirn auslöst. Solche Ablagerungen sind wiederum für die Zerstörung von Nervenzellen verantwortlich. Entsprechende Patente meldete das Forschungsteam 2015 an. 

Die Entdeckung des Enzyms Glutaminylcyclase QC in Bakterien

Etwa zur gleichen Zeit entdeckten Wissenschaftler des Fraunhofer IZI, dass das Enzym Glutaminylcyclase (QC) auch in bestimmten Bakterien enthalten ist. "Das war vorher nicht bekannt und ist hoch interessant in Bezug auf die hemmenden Fähigkeiten der von uns untersuchten Algen", erklärt der Leiter der Arbeitsgruppe Protein- und Wirkstoffbiochemie. Um die notwendigen Forschungskapazitäten zu schaffen, akquirierten Stephan Schilling und Carola Griehl Mittel über das Fraunhofer-Kooperationsprogramm Fachhochschulen und das Projekt Forschungs- und Technologietransfer für das Leben im Digitalen Zeitalter (FORZA). Für das daraus gegründete Zentrum für Naturstoff-basierte Therapeutika lautet nun eine der wichtigsten Fragen: Können Sulfolipide aus Algen über die Hemmung des QC-Enzyms auch das Wachstum von Bakterien eindämmen? 

Medizin aus Algen: Spezifische Antibiotika gegen Parodontitis und Fibrose

"Auf diesem Weg treffen wir zwar nur bestimmte Bakterien, aber spezifische Therapien werden immer wichtiger, um weniger Breitband-Antibiotika einzusetzen, für die es immer öfter Resistenzen gibt", erklärt Stephan Schilling, der als Indikation zum Beispiel Parodontitis im Blick hat. Auch altersbedingte Erkrankungen wie Fibrose könnten in Frage kommen. Spezifische Antibiotika hätten darüber hinaus den Vorteil, dass nicht-pathogene Bakterien verschont bleiben und die Patienten nicht zusätzlich geschwächt würden.

Der lange Weg zum Medikament

Klar ist dem Forschungsteam aber auch: Auf dem Weg zu einem Medikament stehen sie ganz am Anfang. Ob und wie Algen auf die Bakterien wirken, ist völlig offen. Zusätzliche Hoffnung macht ein im vergangenen Jahr in China entwickeltes Alzheimer-Medikament auf Algen-Basis. Es setzt über die Wachstumshemmung von Mikrobiomen auf eine ähnliche Wirkweise. "Dass auch andere Wissenschaftler in Algen große Potenziale sehen und unsere Forschung zudem zitieren, motiviert, zumal bislang nur wenige Medikamente aus Algen zugelassen sind", sagt Carola Griehl.

 

"Dass auch andere Wissenschaftler in Algen große Potenziale sehen und unsere Forschung zudem zitieren, motiviert, zumal bislang nur wenige Medikamente aus Algen zugelassen sind." Prof. Carola Griehl, Hochschule Anhalt

 

Sulfolipide nur ein Ansatz

Sollte sich der Weg über das Enzym Glutaminylcyclase als Sackgasse erweisen, sind im Zentrum für Naturstoff-basierte Therapeutika andere Möglichkeiten geplant. "Wir forschen zum einen spezifisch, ob Algen auf bestimmte Enzyme wirken, gehen aber auch global vor und schauen uns den gesamten Organismus Alge an", erklärt Stephan Schilling. Das Ziel des neuen Forschungszentrums sei letztlich, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Algen in Form von innovativen Produkten auf den Markt zu bringen. "Und hier entscheiden Funktionalität und Preis", sagt Carola Griehl. 

Alleskönner Alge: Rohstoff, Energieträger, Therapeutikum

Seit 20 Jahren widmet sich die studierte Biochemikerin inzwischen der angewandten Algenforschung und hat mit  ihren Projekten verschiedene Meilensteine gesetzt: zur Kultivierung von Algen eine Pilotanlage aus vier „Tannenbaum“-Reaktoren in Zusammenarbeit mit der Firma GICON, das "Milking"-Verfahren zur Ölgewinnung aus Algen, die Erforschung und Nutzung neuer Spezies wie der Tetradesmus wisconsinensis als Carotinoid-Lieferant für Cosmeceuticals mit der Salata AG.

Die Suche nach der richtigen Alge und das bessere Verfahren

"Viele bemerkenswerte Eigenschaften und Fähigkeiten hat die Algenforschung bereits im Labor nachgewiesen. Nun muss es gelingen, die Ergebnisse erfolgreich in der Praxis umzusetzen und so den Transfer auf den Markt voranzutreiben ", sagt die Wissenschaftlerin nicht zuletzt mit Blick auf ihre anderen Forschungsprojekte wie die Erdölgewinnung aus Algen. Dass das möglich ist, darüber hat schon "Die Sendung mit der Maus" 2015 berichtet. Nichts Neues, aber zu teuer. Daher weiterhin interessant für die angewandte Forschung, erklärt Carola Griehl: "Jetzt geht es darum, wer die richtige Alge und das bessere Verfahren hat." Und dieser Wettlauf habe gerade erst begonnen, egal ob es sich um innovative Energieträger, Lebensmittel, Düngemittel, Biokunststoffe, Kosmetik oder Therapeutika aus Algen handelt.

Offiziell eröffnet das Zentrum für Naturstoff-basierte Therapeutika (ZNT) in Köthen am 2. Dezember 2020. Wer dabei sein möchte, meldet sich hier an: https://www.forza-anhalt.de/veranstaltungen/znt/

Hintergrund: Innovative Produkte aus uralten Organismen: Algenbiotechnologie an der Hochschule Anhalt

Zwischen 2001 und heute hat sich die Algenbiotechnologie in Köthen mit rund 10 Millionen Euro eingeworbenen Drittmitteln zu einem der forschungsstärksten Bereiche an den Hochschulen Sachsen-Anhalts entwickelt, auch mit Unterstützung des KAT-Netzwerks. In Köthen treffen sich Grundlagen- und angewandte Forschung. Neben den vielen Projekten entsteht hier eine Algen-Stammsammlung, die von den Hochschulmitarbeitern gern "Schatzkiste" genannt wird. Unter den 300 Spezies finden sich einige, die selbst in der weltweit größten Sammlung von 2400 Mikroalgen an der Uni Göttingen nicht bereit gehalten werden. Dabei ist noch einiges zu tun: Die Wissenschaft hat erst rund 40.000 Spezies der mutmaßlich 500.000 Makro- und Mikroalgen auf der Erde beschrieben. In der industriellen Produktion von Mikroalgen spielen heute nur etwa 10 bis 15 eine Rolle. Forscher gehen davon aus, dass Algen zu den ältesten Lebewesen gehören und vor etwa 3,5 Milliarden Jahren die Erde besiedelten. Prof. Carola Griehl: „Mit den Algen begann das Leben, sie haben die Photosynthese entwickelt – der einzige Bioprozess, der CO2 mit Hilfe von Sonnenlicht in Biomasse umwandeln kann. Algen sind daher eine wichtige Rohstoffquelle für die Zukunft und besonders interessant zur Lösung unserer aktuell größten Probleme. Sie können die Menschheit mit Nahrungsmitteln, Biokunststoffen, Pharmaka oder Energie versorgen.“

Prof. Dr. Carola Griehl hat die Algenbiotechnologie an der Hochschule Anhalt 2001 gegründet und leitet den Bereich bis heute mit dem Fokus auf die angewandte Algenforschung. Zuvor war sie Leiterin der Arbeitsgruppe „Medizinische Chemie“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Aber wer in der angewandten Forschung erfolgreich sein will, muss sich eine Nische suchen und das waren bei mir die Algen“, sagt sie heute. Erfolg definiert sie für sich selbst wie in der Wissenschaft allgemein üblich über ihre Publikationsliste, aber noch mehr über Produkte, die aus ihrer Forschung hervorgehen: Publish oder perish? „Das interessiert mich eigentlich nicht so sehr. Ich publiziere nur, wenn es etwas wirklich Neues gibt und die Daten valide sind“.“

Über ihre Projekte verbinden sie langjährige wissenschaftliche Kooperationen mit Fraunhofer, Max Planck, Leibniz, der Uni Halle oder auch dem KIT in Karlsruhe. Bereits 2010 war Carola Griehl BMBF-Themenbotschafterin für das Wissenschaftsjahr "Zukunft der Energie" und ist bis heute in viele Richtungen gut vernetzt, etwa durch ihr Engagement in der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie (DECHEMA). Zur Stärkung der wissenschaftlich-wirtschaftlichen Kooperationen in der Region hat sie den Mitteldeutschen Algenstammtisch mit begründet.

Er wird anlässlich der Eröffnung des neuen Forschungszentrums am 3. Dezember 2020 erstmals zusammenkommen und bietet eine Kommunikationsplattform für Vertreter aus Industrie und Forschung, die an der Verwertung von Algen und deren Inhaltsstoffen interessiert sind.

Quelle: www.kat-netzwerk.de

vorheriger Beitrag nächster Beitrag