Mit virtueller Realität zur Industrie 4.0

Produktion und Logistik lassen sich kaum noch getrennt betrachten. Im Zuge von Automatisierung und Digitalisierung der Zuliefer- und Wertschöpfungsketten spielt speziell die Intralogistik eine Schlüsselrolle. In Sachsen-Anhalt arbeiten Wirtschaft und Wissenschaft eng zusammen, um anwendungsorientierte Lösungen und effiziente Assistenzsysteme für die Industrie 4.0 zu entwickeln.

Das PC-Spiel für Logistiker und Produktionsplaner

Eine neue Fabrik zu planen ist aufwändig, eine bereits existierende umzugestalten noch aufwändiger. Bevor Unternehmer oder Investoren derartige Projekte in Angriff nehmen, wird deshalb ein virtueller Probelauf unternommen und am Bildschirm überprüft, ob alles passt und funktioniert. Möglich macht das ein Softwarepaket der Magdeburger Tarakos GmbH. Seit fast 20 Jahren entwickelt und vertreibt das Unternehmen Programme für die virtuelle Planung, Simulation und Visualisierung komplexer Fertigungsprozesse - 3D-Software als Assistenzsystem für Industrie 4.0. „Wir sind die Spezialisten, wenn es um dynamische 3D-Darstellungen zum Planen, Animieren und Simulieren von Logistik-, Produktions- und Materialflussanlagen geht“, erklärt Geschäftsführer Herbert Beesten. Mit dem Tarakos-“Baukasten“ lassen sich Logistikzentren und Lagerhallen, Produktionsstraßen und Montagelinien am Rechner modellierenvirtuell begehbar modellieren.

Den Nutzern steht dazu eine Bibliothek aus rund 500 parametrierbaren branchenspezifischen Objekten zur Verfügung, statischen wie etwa Wänden, Pfeilern oder Regalsystemen und animierbaren wie Förderbändern, Gabelstaplern, fahrerlosen Transportsystemen, Robotern und natürlich Menschen. Per Drag & Drop lassen sich die Objekte ins Szenario ziehen und positionieren. Krönender Abschluss ist ein Video, in dem die geplanten Abläufe simuliert durchgespielt werden. Betrachten lässt sich Ganze nicht nur aus Normal-, sondern auch aus der Vogelperspektive. „Virtuell, aber dennoch realistisch in Echtzeit“, schwärmt Beesten, „die perfekte Verbindung zwischen der physischen und der digitalen Logistikwelt.“

Ihren Sitz hat die Softwareschmiede in einem zur „Denkfabrik“ umgebauten Getreidespeicher im ehemaligen Magdeburger Handelshafen, der zu einem von innovativen Unternehmen und Forschungseinrichtungen bevölkerten Wissenschaftshafen umgewandelt werden soll. Ganz in der Nähe befindet sich auch der „Magnet“, der den 64-jährigen einst von Münster/Westfalen nach Magdeburg zog: das Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF. Zum IFF und zur Universität bestehen nach wie vor enge Verbindungen. Die Universität bietet einen der beiden Computervisualistik-Studiengänge in Deutschland an. Zwei Absolventen sind inzwischen für Tarakos tätig. Insgesamt besteht die Belegschaft aus 15 Beschäftigten.

Crash-Test am Bildschirm

Unter den Kunden seien viele Kontraktlogistiker, erzählt Beesten, „die brauchen das Programm, um ihren Kunden zu zeigen, dass die Anlage funktioniert, und sie sich davon überzeugen können, dass tatsächlich genug Platz ist, damit Gabelstapler um alle Ecken kommt.“ Dank der 3D-Brille Oculus Rift kann man sich in die Szenerie hineinversetzen und herumspazieren. Touch-Griff-Sensoren an den Handgelenken ermöglichen, dort Pakete und Bauteile herumzutragen, aufzustapeln oder zu kommissionieren. Seit kurzem lassen sich den Fahrzeugen, Maschinen und Menschen nun auch Geräusche zuordnen. „Man hört, wenn ein Fahrzeug kommt, z.B. von rechts hinten, und kann ihm aus dem Wege gehen“, erklärt Beesten. „Aber keine Angst: Wenn man es nicht schafft, macht das nichts. Die Kollision ist ja nur virtuell und muss nicht als Arbeitsunfall bei der Berufsgenossenschaft gemeldet werden“, scherzt er.

Hauptanwender der Tarakos-Software sind Logistiker, Materialfluss- oder Produktionsplaner. „Das sind keine Programmierer und keine 3D-Experten. Unsere Software ist deshalb auch keine High-End-Anwendung für Spezialisten. Sie ist kostengünstig, einfach zu nutzen, läuft auf jedem gängigen Rechner und lässt sich einfach in die vorhandene IT-Architektur integrieren.“ Unter den Kunden sind Logistikdienstleister (Kühne & Nagel, Hermes, UPS), Hersteller von Fördertechnik (Knapp Systemintegration, SSI Schäfer Noell), produzierende Unternehmen (VW, Porsche, BMW und Daimler, Nestlé und der Werkzeugmaschinenbauer Trumpf), Planungs- und Beratungsunternehmen, 120 Hochschulen und einige Berufsschulen. „Wir sind weltweit unterwegs“, berichtet Beesten. Das Auslandsgeschäft mache 30 Prozent des Umsatzes aus und entwickele sich weiter. „Aber Logistik/Produktionsplanung ist eine schmale Branche und als kleine Firma haben wir keine große Marketing-Power. Deswegen sehen wir uns nach einem strategischen Partner um, als Vertriebspartner oder Investor.“

Variantenvielfalt beherrschbar machen

Die reale Produktion unter die Lupe nahmen Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF (Magdeburg) bei einem Forschungsprojekt mit der Mercedes-Benz Ludwigsfelde GmbH  im Nutzfahrzeuge-Werk in Ludwigsfelde bei Berlin. Ein Team um Wirtschaftsingenieur Marc Kujath aus der IFF-Abteilung Logistik und Fabriksysteme hatte zusammen mit dem „Intelligente Produktion“-Team des Werkes den Auftrag, die Logistik- und Produktionsprozesse beim Automobilhersteller transparenter zu gestalten.

Jeder, der schon einmal einen Neuwagen bestellt hat, weiß: Die Variantenvielfalt ist inzwischen nahezu unendlich groß. Für die Produktion bedeutet diese hochgradige Individualisierung, dass viele Bauteile für die Werker optisch kaum noch zu unterscheiden sind. Die meisten, vor allem aber sicherheitsrelevante Bauteile werden deshalb seitens der Hersteller mit einem Barcode versehen, auf dem die Seriennummer gespeichert ist. Die Überprüfung, ob das richtige Teil an der richtigen Stelle verbaut wurde, erfolgt individuell und Stück für Stück mittels eines Handscanners – noch. Denn die Fraunhofer-Forscher haben zusammen mit der Mercedes-Benz Ludwigsfelde GmbH eine Lösung in die Anwendung gebracht, die auf der RFID-Funktechnologie basiert. Und Mehrwert schafft.

Bauteil-Casting

Für die Untersuchung waren im Werk zunächst rund 40 in Frage kommende Teile identifiziert und für die Pilotphase schließlich Seitenspiegel und Sitze ausgewählt worden. Nach umfangreichen Funktests wurden die Bauteile nun mit RFID-Transpondern versehen, sogenannten „Tags“. Anders als beim Barcode ist auf den einem Preisschild ähnelnden Tags nicht nur gespeichert, um welchen Spiegeltyp es sich handelt, sondern sie verweisen auch darauf, in welches Fahrzeug der Spiegel eingebaut werden soll, wer der Lieferant ist oder diverse andere Informationen. Und während jeder Barcode einzeln mit einem Handscanner ausgelesen werden muss, lassen sich diese Tags über ein Lesegerät berührungslos erfassen, und das auch in großen Mengen, gleichzeitig und blitzschnell. „Solch eine Pulk-Erfassung findet typischerweise bei der Materialbereitstellung statt, also dem Übergang von der Logistik zur Produktion“, erklärt Kujath. „Der Gabelstapler holt die Palette vom Lkw, passiert ein RFID-Gate, das sekundenschnell die gesamte Liefercharge ausliest – voll automatisiert und alles auf einmal.“

Über die RFID-Tags lassen sich die Informationen jederzeit abrufen. Und zwar auch und gerade dann, wenn die Teile bereits verbaut sind. „Für die Produktion ist dies ein großer Vorteil“, erklärt Kujath: „Bei der Montage von Vorder- oder Hinterachse oder Bauteilen im Motorraum kann so zwischendurch bereits überprüft werden, ob alle erforderlichen Bauteile auch tatsächlich verbaut wurden.“ Bisher werde diese entscheidende Objektzuordnung erst in der Endkontrolle vollzogen – „ganz traditionell, von Menschen, per Sichtkontrolle und Strichliste auf dem Klemmbrett. Doch die ‚digitale Checkliste‘ ist effizienter“, resümiert er. „Sie ist weniger fehleranfällig und zudem kostengünstiger, entlastet die Mitarbeiter von der Routinetätigkeit, gibt ihnen aber durch die automatische Prüfung die Sicherheit, die richtigen Teile verbaut zu haben.“ Im Ergebnis ließen sich also durch die RFID-Tags an den Bauteilen nicht nur die Prozesssicherheit und die Effizienz, sondern auch die Transparenz des Produktionsprozesses deutlich erhöhen, so Kujath. In einem weiteren Schritt laufen nun Serientests, die eine schrittweise Überführung der Technologie in den Produktivprozess einleiten sollen. Gemeinsam mit dem Projektpartner erarbeiten die Wissenschaftler darum derzeit ein anwendungsorientiertes Qualifizierungskonzept mit einem interaktiven Schulungsdemonstrator.

Entstanden war das Projekt aus dem am Fraunhofer IFF entwickelten „Industrie 4.0-CheckUp“ für Unternehmen. Dabei werden die Digitalisierungspotenziale des jeweiligen Unternehmens systematisch analysiert. Danach entscheidet sich, ob die Integration von 4.0-Technologien in die Prozesskette sinnvoll – weil wertschöpfend – ist oder nicht und welche konkreten Maßnahmen sich anbieten. Der Institutsleiter des Fraunhofer IFF, Professor Michael Schenk, brachte es auf die Formel: „Die Digitalisierung der Produktions- und Logistikwelt ist die Zukunft. Aber es gibt keine 4.0-Lösungen von der Stange, sondern stets individuelle Lösungen.“

Unterschätzte Lastesel

Auch wenn der Hype um die RFID-Technologie vorbei ist, „uncool“ ist sie deswegen noch lange nicht. Im Gegenteil: Im Zeitalter von Industrie 4.0 nimmt ihr Einsatz in Produktion und Logistik rasant zu, denn mittels RFID-Tags lassen sich viele Produkte und Betriebsmittel in intelligente oder sogar kommunikationsfähige Informationsträger innerhalb der Logistikkette verwandeln. Wie zum Beispiel Transportpaletten. Die robusten, vielseitig einsetzbaren Ladungsträger sind vermeintlich das, was im Marketing als „low interest product“ bezeichnet wird. Im Logistikkosmos hingegen werden sie als „high potentials“ gehandelt, denn sie sind ideal geeignet, Daten und Informationen zu sammeln: Sie sind lange in der Supply Chain unterwegs, kommen dabei weit herum und übernehmen unterschiedlichste Lager- und Transportaufgaben. Das heißt: Sie können an unterschiedlichsten Stationen in der Transport- und Logistikkette zur Informationsgewinnung genutzt werden - beim Warenein- und -ausgang, in der Produktion, bei der Kommissionierung, aber auch der Sendungsverfolgung -, Daten in Echtzeit und damit wertvolle Erkenntnisse liefern. Und da Paletten millionenfach im Umlauf sind, stünde eine extrem breite aussagekräftig Datenbasis zur Verfügung.

Zusammen mit dem Palettenhersteller CABKA_IPS entwickelten Materialflusstechnikexperten des IFF deshalb ein System zur Implementierung von RFID-Tags in Mehrwegpaletten aus Kunststoff. Die seien wirtschaftlicher als die aus Holz, erklärt Professor Klaus Richter, Abteilungsleiter Materialflusstechnik und -systeme am IFF. Sie seien haltbar und langlebig, zudem hygienisch, ließen sich wesentlich häufiger umschlagen und auch in automatisierten Umgebungen wie Hochregallagern einsetzen. Der Mehrpreis gegenüber einer Holzpalette lohnt sich damit. Leider werden sie auch gerne zweckentfremdet. „Man muss aufpassen, dass sie nicht gleich weg sind," erklärt Wirtschaftsingenieur Olaf Poenicke aus Richters Team. „Der Graumarkt dafür ist groß.“

Bei hochwertigen Paletten macht es daher Sinn, sie mit Transpondern zu versehen – die werden üblicherweise in den Palettenfuß eingeklebt - um die Palette so eindeutig identifizierbar zu machen. Innerhalb ihres „Pools“, d.h. dem Paletten-Tauschsystem in dem sie kreiseln, können sie dann problemlos nachverfolgt, lokalisiert und wieder „eingefangen“ werden. Bei einem großen Discounter sind bereits weit über 1,5 Millionen RFID-Paletten im Einsatz.

Vorstoß ins Internet der Dinge

In einem neuen Projekt tüfteln CAPKA_IPS, die IFF-Forscher und weitere Partner aus der Industrie an der nächsten Stufe, nämlich die Ausrüstung der Paletten mit Sensoren. Die könnte in Sachen Digitalisierung und Vernetzung von Produktion und Logistik noch ganz andere Vorteile bringen und bedeuten einen Vorstoß ins Internet der Dinge (Internet of Things – IoT). Die sogenannten IoT-Paletten sind interessant für alle Güter, die in besonderem Maße Überwachung benötigen, erklärt Poenicke. Zum Beispiel temperatursensible Lebensmittel und Medikamente oder feinmechanische Maschinenteile, die keine Erschütterungen vertragen. Durch die Sensoren oder die aus mehreren Messfühlern bestehenden Sensorknoten könnten Umgebungsdaten wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit kontinuierlich überwacht werden, weil automatisch erfasst und in Echtzeit übermittelt. Kritische Werte und Störungen ließen sich so frühzeitig erkennen und Schäden vermeiden. Von mobilen Endgeräten wie Smartphones, Tablets oder auch Smartwatches können Nutzer jederzeit auf die Daten zugreifen. Eine solche webbasierte Analyse von immer mehr verfügbaren Informationen ermöglicht es den Anwendern, auch und gerade lange und komplexe Wertschöpfungsketten wesentlich effizienter und transparenter zu betreiben als bisher. Noch liegen die Sensorplatinen preislich im zweistelligen Eurobereich, sagt Poenicke, „aber die Rechentechnik wird immer kleiner, energieeffizienter und kostengünstiger.“ Damit würde es für einen immer größeren Kreis von Anwendern interessant, die neuen Möglichkeiten in ihren Logistik-Alltag zu integrieren und von ihnen zu profitieren.

Autor: Anne Schneller

www.tarakos.de
www.iff.fraunhofer.de


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