Ein Haus der Generationen für alle Stationen im Leben

Die Franckeschen Stiftungen in Halle haben Grund zum Feiern. Nicht nur, weil deren Gründer, der Reformpädagoge August Herrmann Francke, in diesem Jahr seinen 350. Geburtstag hat. Die von ihm gegründete „Schulstadt“ ist heute europaweit beispielgebend für die erfolgreiche Weiterentwicklung eines Bildungs- und Sozialwerkes aus dem 17. Jahrhundert. „Wir führen die Stiftungen im Geiste der pädagogischen und sozialen Reform Franckes fort“, sagt deren Direktor Thomas Müller-Bahlke und nennt das Gemeinschaftsprojekt „Haus der Generationen“ als solch einen Ort, wo Franckes Ideen in die Moderne übersetzt werden.

Es ist nicht nur die Frühlingssonne, die den Senioren ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Wohl auch das muntere, unbeschwerte Geplapper der Mädchen und Jungen neben ihnen öffnet ihre Herzen. Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Montessori-Grundschule sind die Bewohner des „Altenpflegeheimes Haus der Generationen der Paul-Riebeck-Stiftung zu Halle an der Saale“ künstlerisch beschäftigt. Sie fertigen ein großes Bild aus vielen kleinen farbigen Papierknöllchen. Hin und wieder stecken sie die Köpfe zusammen, flüstern sich etwas zu. „Kinder sind für alte Menschen ein Wohlfühlfaktor, der keine großen Therapieformen verlangt“, sagt der Leiter des Altenpflegeheimes René Conrad und dass die Kinder ebenso profitieren – von den vielen Geschichten nämlich, die ein langes Leben sammelt. „Dass ihre Erzählungen Zuhörer finden, vermittelt den Senioren ein stimmungsaufhellendes Selbstwertgefühl“, weiß Conrad.

Das Altenpflegeheim der Paul-Riebeck-Stiftung und die evangelische Grundschule der Montessori-Gesellschaft in Halle sind zwei der drei Partner im „Haus der Generationen“ unter dem Dach des aufwändig sanierten ehemals Königlichen Pädagogiums. Francke hatte diese Bildungs- und Erziehungsanstalt für Kinder aus dem Adel und dem wohlhabenden Bürgertum gegründet – und mit einer der bedeutendsten Schulen Preußens auch eine finanzielle Grundlage für sein Vorhaben geschaffen, armen Kindern Bildung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Das große Waisenhaus auf der gegenüber liegenden Seite des lang gestreckten Lindenhofes war 1700 der erste Bau der Franckeschen „Schulstadt“.

Wie damals ist auch heute deren Bildungskonzept so überzeugend, dass es viele ideelle und finanzielle Unterstützer findet – vom privaten Engagement bis zur Politik auf Bundesebene. „Unsere Leitidee ist, die Potenziale jeder Generation fruchtbar zu machen für das Gesamtgeschehen innerhalb einer Gesellschaft“, sagt Stiftungsdirektor Thomas Müller-Bahlke.

Unser gesellschaftliches Gefüge erfährt derzeit unter dem Druck des demografischen Wandels gravierende Veränderungen. Sachsen-Anhalt kann auf Grund seiner Bevölkerungsstruktur eine Vorreiterrolle einnehmen beim Aufzeigen von Möglichkeiten, damit umzugehen. „Die Franckenschen Stiftungen mit den beheimateten Institutionen hier auf dem Gelände“, so Müller-Bahlke, „verstehen sich in diesem Zusammenhang als ein Impulsgeber. Hier werden Lebensmodelle konzipiert, ausprobiert und immer wieder den sich verändernden Bedingungen angepasst.“

Die „Schulstadt“ allen Generationen zu öffnen, ist eine solche Idee. Wenn sich die Bewohner des Altenpflegeheimes auf eine Bank vor ihrem Haus setzen, dann befinden sie sich gleichsam inmitten des turbulenten Pausengeschehens der Montessori-Grundschule. Altenpflege findet hier nicht in ruhiger Abgeschiedenheit statt. Sie wird in den Bildungskosmos der „Schulstadt“ hinein, wird mitten ins Leben geholt. „Das ist nicht nur wohlfühlen, das erfordert auch Auseinandersetzung, das regt die geistige Tätigkeit an und hält fit“, sagt Heimleiter Conrad. Und Dirk Rohra, Geschäftsführer der Montessori-Grundschule, ist gern auch mal stiller Beobachter des Umgangs miteinander da draußen auf dem Hof.

Die Lehrer und Eltern der Montessori-Schüler schätzen das „Haus der Generationen“ als einen Ort, wo grundlegende generationsübergreifende Erfahrungen auf engem Raum gesammelt werden. Das Thema „Alter“ ist im „Haus der Generationen“ Ideengeber für viele Projekte. Die Senioren begrüßen die Erstklässler mit kleinen Schultüten. Mit selbst gebastelten Geschenken und Liedern gratulieren ihnen die Kinder zum Geburtstag. Sie können aktiv dabei sein, wenn Heimbewohner gemeinsam kochen und backen. „Was Altwerden bedeutet, erfahren unsere Kinder hier im normalen Alltag“, sagt Dirk Rohra. „Ein verwirrter Geist gehört dazu, der Krankenwagen und letztendlich eben auch, dass jemand stirbt und mit dem Leichenwagen abgeholt wird.“

„In Fortführung der Franckeschen Tradition schaffen die beteiligten Partner im ,Haus der Generationen‘ ein Netzwerk für die verschiedenen Stationen im Leben, auch für bestimmte Situationen“, sagt Stiftungsdirektor Müller-Bahlke. Zwischen „ganz jung“ und „ganz alt“ liegt in der Natur der Dinge der Lebensabschnitt der Familiengründung. In die Familienetage im „Haus der Generationen“ sind die Frankeschen Stiftungen mit ihrem „Familienkompetenzzentrum“ eingezogen. „Den Anforderungen einer Familie gerecht zu werden, schafft nicht jeder allein – aus verschiedensten Gründen. Wir vermitteln Kompetenzen, ohne belehrend zu sein. Wir helfen auf Augenhöhe, auf freundschaftlicher Basis“, sagt dessen Leiter Jens Deutsch und dass sich die Angebote in der „Familienetage“ vorrangig um die Gesundheit drehen. Sie sind offen für die ganze Stadt und reichen von der Ernährungsberatung inklusive Babybreiküche und Kochabende über aktive Familienangebote wie Eltern-Kind-Spiele oder „bewegte“ Geburtstagsfeiern bis hin zur erlebnisreichen Freizeitgestaltung im Sportverein der Franckeschen Stiftungen. Sehr gefragt sind die Familienpaten. Studenten der Erziehungswissenschaften zum Beispiel beraten sehr junge Eltern. Oder agile Rentner kommen zur Hausaufgabenhilfe hierher in die „Familienetage“.

Es ist Mittagszeit und duftet appetitlich aus der kleinen Küche. „Einigen bedürftigen Familien bieten wir einen Freitisch“, sagt Deutsch. Der Diplompädagoge hat sich unter anderem zur Kinderschutzfachkraft weitergebildet. Im Franckeschen Sinne wird im „Haus der Generationen“ an sozialen Problemlagen nicht vorbei geschaut.


Autorin: Kathrain Graubaum (Text/Foto)

Kontakt:
Haus der Generationen in den Franckeschen Stiftungen zu Halle
Geschäftsstelle der Franckeschen Stiftungen
Franckeplatz 1 Haus 37
06110 Halle

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